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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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sie der Anbetung würdig findet, und eine That wird ihr vorgestellt, in der
sie ihre Heidenseele geltend machen kann: die Befreiung ihres Vaterlands
von einem Tyrannen. Um so glühender muß diese Idee sie ergreifen, da
sich dieser Heroismus im Zerstören äußern darf. Der Conflict ist nun die¬
ser: den Mann, der ihr unter allen Sterblichen zuerst das Gefühl der An¬
betung einflößt, soll sie tödten; um ihn tödten zu können, muß sie sich
ihm Preis geben, muß sich ihm in der verächtlichen Form einer Bichlcrin
darstellen. Sie gibt sich ihm Preis, aber nicht blos, wie sie gedacht, um ihn
zu fange", sondern aus Wollust; sie mordet ihn, aber nicht aus Patriotis¬
mus, sondern aus Wuth, von ihm verachtet zu sein, noch zitternd von der
Brunst des thierischen Genusses. -- Ein psychischer Cloak, der eiues Fr.
Souliv würdig wäre, deu aber, als nothwendiges, welthistorisches Ueber-
gangSmoment der einen Form des Geistes in die andere darzustellen, eiuen
krankhaften Seelenzustand verräth.

Wo ist ferner der sittliche Conflict in der Genoveva? Es scheint, als
sollte er nicht in den einzelnen Charakteren liegen, sondern in der gauzeu Zeit;
als sei die Menschheit überhaupt in eine große Schuld verfallen, die nun der
Einzelne büßen müsse. Darauf deutet Hebbel in der kurzen Vorrede hin;
darauf scheint der Plan des Ganzen angelegt, der uns Judenverfolgungen,
Kreuzzug-Details, Hexensabbate und dergleichen vorführt, ohne daß es er¬
sichtlich wäre, wie durch sie die Handlung gefördert wird. Golo sagt:


Ich wollte basi dein Fluch
Die Welt zersprengte! Richt zum zweiten Male wird
Sie Gott erschaffen, nur sein Mitleid hält
Sie noch zusammen mit dem blut'gar Kitt,
Den ihm vom Kreuz herunter bot sein Sohn.
Mich schaudert's, denn mir ist, als wär' ich nur
Ein Wurm in einem Körper, der verfault.

Ja das letzte Resultat scheint auch darauf hinanözukoimnen. Siegfried sagt:


Ich strafe niemals einen Menschen mehr,
Seit ich in's Innre der Natur geschaut.
Auch sie, wenn sie noch lebte, stürbe nicht.
Was ist ein Wort! der Hauch von einem Hauch!
Sie war das schöne Zifferblatt der Welt,
Und ihre Schuld, der schwarze Weiser, still
Durch das verborgne Triebrad fort gerückt,
Und rasch von Mittag auf die Mitternacht
Zusteuernd, die den Kreislauf schließen soll.

Und welches ist diese Zeit, deren Weiser die Schuld des Einzelnen
sein soll? Der Dichter sagt, "die poetische." Das kaun doch nur heißen: die
allgemein menschliche, die ideale, die jedes Volk und jedes Jahrhundert ver-


sie der Anbetung würdig findet, und eine That wird ihr vorgestellt, in der
sie ihre Heidenseele geltend machen kann: die Befreiung ihres Vaterlands
von einem Tyrannen. Um so glühender muß diese Idee sie ergreifen, da
sich dieser Heroismus im Zerstören äußern darf. Der Conflict ist nun die¬
ser: den Mann, der ihr unter allen Sterblichen zuerst das Gefühl der An¬
betung einflößt, soll sie tödten; um ihn tödten zu können, muß sie sich
ihm Preis geben, muß sich ihm in der verächtlichen Form einer Bichlcrin
darstellen. Sie gibt sich ihm Preis, aber nicht blos, wie sie gedacht, um ihn
zu fange», sondern aus Wollust; sie mordet ihn, aber nicht aus Patriotis¬
mus, sondern aus Wuth, von ihm verachtet zu sein, noch zitternd von der
Brunst des thierischen Genusses. — Ein psychischer Cloak, der eiues Fr.
Souliv würdig wäre, deu aber, als nothwendiges, welthistorisches Ueber-
gangSmoment der einen Form des Geistes in die andere darzustellen, eiuen
krankhaften Seelenzustand verräth.

Wo ist ferner der sittliche Conflict in der Genoveva? Es scheint, als
sollte er nicht in den einzelnen Charakteren liegen, sondern in der gauzeu Zeit;
als sei die Menschheit überhaupt in eine große Schuld verfallen, die nun der
Einzelne büßen müsse. Darauf deutet Hebbel in der kurzen Vorrede hin;
darauf scheint der Plan des Ganzen angelegt, der uns Judenverfolgungen,
Kreuzzug-Details, Hexensabbate und dergleichen vorführt, ohne daß es er¬
sichtlich wäre, wie durch sie die Handlung gefördert wird. Golo sagt:


Ich wollte basi dein Fluch
Die Welt zersprengte! Richt zum zweiten Male wird
Sie Gott erschaffen, nur sein Mitleid hält
Sie noch zusammen mit dem blut'gar Kitt,
Den ihm vom Kreuz herunter bot sein Sohn.
Mich schaudert's, denn mir ist, als wär' ich nur
Ein Wurm in einem Körper, der verfault.

Ja das letzte Resultat scheint auch darauf hinanözukoimnen. Siegfried sagt:


Ich strafe niemals einen Menschen mehr,
Seit ich in's Innre der Natur geschaut.
Auch sie, wenn sie noch lebte, stürbe nicht.
Was ist ein Wort! der Hauch von einem Hauch!
Sie war das schöne Zifferblatt der Welt,
Und ihre Schuld, der schwarze Weiser, still
Durch das verborgne Triebrad fort gerückt,
Und rasch von Mittag auf die Mitternacht
Zusteuernd, die den Kreislauf schließen soll.

Und welches ist diese Zeit, deren Weiser die Schuld des Einzelnen
sein soll? Der Dichter sagt, „die poetische." Das kaun doch nur heißen: die
allgemein menschliche, die ideale, die jedes Volk und jedes Jahrhundert ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/514>, abgerufen am 22.07.2024.