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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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gewaltigen Bildern zu zeigen, wie die .. erstarrten, aber durch die letzte
große Geschichtsbewegung entfesselten Elemente, durcheinander fluthend und
sich gegenseitig bekämpfend, die neue Form der Menschheit erzeugen." --
Eine Ansicht, die ich unbedingt theile, was auch die romantische Theorie der
Tendcnzlosigkeit, die sich selbst in einem Kritiker der philosophischen Schule
gegen Hebbel ausgesprochen hat, dagegen einwenden mag. Hebbel zeigt
sogar im Einzelnen, daß er -- theoretisch -- ein richtiges Bewußtsein dar¬
über hat, indem er an den Wahlverwandtschaften (wie an Calderon)
tadelt, daß der Dichter die sittliche Bestimmung als fest voraussetzt, die er
eben in ihrem Prozeß veranschaulichen soll; an Faust, daß er die Ge-
k'nrtsweheu der um eine neue Form ringenden Menschheit, ans Unfähigkeit,
sie in ihrer Totalität zu fassen, endlich zu bloßen Krankhcitömomentcn eines
Individuums herabdrückt. Wenn er daun hinzusetzt: "Nur wo ein Problem
vorliegt, hat eine Kunst etwas zu schaffen; wo auch aber ein solches auf¬
geht, wo euch das Leben in seiner Gebrochenheit entgegentritt und zugleich
in euerm Geist das Moment der Idee, in dem es die verlorne Einheit
wieder findet, da ergreift es! wenn ihr auch das Fieber nicht heilen könnt,
ohne euch mit dem Fieber einzulassen;" so kann die Kritik diesen Maaßstab
des Urtheils unbedingt adoptiren, und eben daran - des Dichters Leistungen
verurtheilen.

Denn was sind es für Probleme, die unser Dichter sich stellt? Eben
jene anonymen, individuellen Krankheitsgeschichten, die nicht dem historischen
Gebiet, sondern dem pathologischen angehören. Wenn Gutzkow sich in die
Seele eines Nerv zu träumen, oder wenn er das Problem zu lösen sucht,
wie ein Dalai Lama die Welt auffassen mag, so ist das eine Aufgabe, die
mit dem großen Gange des Weltgeistes nichts zu schaffe" hat. Es ist, als
wenn Einer bei der Pfeife Tabak sich den Kopf darüber zerbricht: wie mögen
doch die Leute im Monde aussehen, oder was für Gefühle mag einer haben,
der lebendig begraben ist u. dergl. Und leider muß ich erkläre", daß die
ethischen Probleme, die Hebbel sich stellt, in keiner Weise eine größere
Digintät in Anspruch nehmen können.

Worin liegt, Alles in Allein genommen, das Große und Anerkennens-
wcrthe unsers Dichters? Darin, daß er sich nicht auf diese halben Wesen
einläßt, die heute dies, morgen jenes wollen, sondern ganze Charaktere con-
eipirt, die unbedingt in Eine Leidenschaft, in Eine Gemüthsrichtung aufgehen,
wenn diese auch Wahusiu" ist. Aber ehe" daß sie in der Regel Wahnsinn,
wenigstens Krankheit ist, das entreißt ihm wieder den Kranz der echten
Poesie, der um da erworben wird, wo Maaß ist. Man mißverstehe mich nicht,


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gewaltigen Bildern zu zeigen, wie die .. erstarrten, aber durch die letzte
große Geschichtsbewegung entfesselten Elemente, durcheinander fluthend und
sich gegenseitig bekämpfend, die neue Form der Menschheit erzeugen." —
Eine Ansicht, die ich unbedingt theile, was auch die romantische Theorie der
Tendcnzlosigkeit, die sich selbst in einem Kritiker der philosophischen Schule
gegen Hebbel ausgesprochen hat, dagegen einwenden mag. Hebbel zeigt
sogar im Einzelnen, daß er — theoretisch — ein richtiges Bewußtsein dar¬
über hat, indem er an den Wahlverwandtschaften (wie an Calderon)
tadelt, daß der Dichter die sittliche Bestimmung als fest voraussetzt, die er
eben in ihrem Prozeß veranschaulichen soll; an Faust, daß er die Ge-
k'nrtsweheu der um eine neue Form ringenden Menschheit, ans Unfähigkeit,
sie in ihrer Totalität zu fassen, endlich zu bloßen Krankhcitömomentcn eines
Individuums herabdrückt. Wenn er daun hinzusetzt: „Nur wo ein Problem
vorliegt, hat eine Kunst etwas zu schaffen; wo auch aber ein solches auf¬
geht, wo euch das Leben in seiner Gebrochenheit entgegentritt und zugleich
in euerm Geist das Moment der Idee, in dem es die verlorne Einheit
wieder findet, da ergreift es! wenn ihr auch das Fieber nicht heilen könnt,
ohne euch mit dem Fieber einzulassen;" so kann die Kritik diesen Maaßstab
des Urtheils unbedingt adoptiren, und eben daran - des Dichters Leistungen
verurtheilen.

Denn was sind es für Probleme, die unser Dichter sich stellt? Eben
jene anonymen, individuellen Krankheitsgeschichten, die nicht dem historischen
Gebiet, sondern dem pathologischen angehören. Wenn Gutzkow sich in die
Seele eines Nerv zu träumen, oder wenn er das Problem zu lösen sucht,
wie ein Dalai Lama die Welt auffassen mag, so ist das eine Aufgabe, die
mit dem großen Gange des Weltgeistes nichts zu schaffe» hat. Es ist, als
wenn Einer bei der Pfeife Tabak sich den Kopf darüber zerbricht: wie mögen
doch die Leute im Monde aussehen, oder was für Gefühle mag einer haben,
der lebendig begraben ist u. dergl. Und leider muß ich erkläre», daß die
ethischen Probleme, die Hebbel sich stellt, in keiner Weise eine größere
Digintät in Anspruch nehmen können.

Worin liegt, Alles in Allein genommen, das Große und Anerkennens-
wcrthe unsers Dichters? Darin, daß er sich nicht auf diese halben Wesen
einläßt, die heute dies, morgen jenes wollen, sondern ganze Charaktere con-
eipirt, die unbedingt in Eine Leidenschaft, in Eine Gemüthsrichtung aufgehen,
wenn diese auch Wahusiu» ist. Aber ehe» daß sie in der Regel Wahnsinn,
wenigstens Krankheit ist, das entreißt ihm wieder den Kranz der echten
Poesie, der um da erworben wird, wo Maaß ist. Man mißverstehe mich nicht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/511>, abgerufen am 03.07.2024.