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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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schen Nacktheit vor uns da. Der Verfasser wollte seinem Haß gegen die
hohe Bourgeoisie, die jetzt am Nuder ist, Luft machen, und hat sich dazu der
rohen aber wirksamen Mittel, welche die Theater der Boulevards bieten, mit
Geschick und Energie bedient. Sein Lumpensammler ist ein Melodram von dem
schwersten Kaliber, es enthält Alles was ein gedankenloses Publikum nur kirren
und packen kauu, vornehme Niederträchtigkeit und plebejische Tugend, Wickel-
kinder und Kindesmord, falsche Zeugnisse und falsche Empfindsamkeit, und
nebst vielen anderen Ingredienzien ähnlicher Natur, Uuwahrscheiulichkeiten,
so haarsträubend, daß ich von der Verwunderung gar nicht zurückkommen
kann, wie der ganze Saal über einige derselben nicht in eiuen Sturm des
Erstaunens ausgebrochen ist. Das Publikum, das überhaupt nicht zum
ästhetischen Zionswächter berufen ist, wurde außerdem durch das Spiel Fre¬
deric Lcmaitre'S, der deu Lumpensammler mit unbeschreiblicher Vortrefflich-
keit gab, bestochen. Dieser berühmte Schauspieler, dessen ungebildetes Ta¬
lent den strengeren Forderungen wahrhaft dichterischer Werke gewöhnlich
unterliegt und der namentlich von den Feinheiten und der Musik der gebun¬
denen Rede nicht eine Ahnung zu haben scheint, steht doch höher als die
Melodramen, deren Hauptrollen ihm zufallen, und in Pyat's Lumpensammler
feierte er wirklich einen unvergleichlichen Triumph. Zornig und zärtlich,
lustig und betrübt, nüchtern und berauscht, Philosoph und Diplomat, er ist
das Alles mit unwiderstehlicher Wahrheit und Lebendigkeit. Da nun das
Stück auch sonst weit besser gespielt wird als die Tragödien des Theater Franyais
und des Odeon, so ist das Publikum sehr zu entschuldigen, daß es die
Gebrechen des Werks übersah, allein daß ein Theil der Kritik auch in den
Jubel mit einstimmte, ist bedenklich. Durch Nichts wird der gute Geschmack
tiefer untergraben als durch Melodramen wie Pyat's Lumpensammler. Das
ausgelassenste Melodram des Palais royal thut keinen Schaden; der Cy¬
nismus, mit genialer Heiterkeit getränkt, verliert sein Gift und, wie der
Tod, hat auch der Witz eine reinigende Kraft; allein ernsthafter Unverstand
und bodenloses Pathos, das ungeübten Ohren wie Weisheit klingt, ver¬
wirren die Begriffe und tödten alles Gefühl für wahre Schönheit. Hier
wäre es also die Aufgabe der Kritik energisch einzugreifen, und es ist zu
wünschen, daß die Recensenten jenseits des Rheins ihre Schuldigkeit besser
thun werden als die Montagsmänner in Paris.


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schen Nacktheit vor uns da. Der Verfasser wollte seinem Haß gegen die
hohe Bourgeoisie, die jetzt am Nuder ist, Luft machen, und hat sich dazu der
rohen aber wirksamen Mittel, welche die Theater der Boulevards bieten, mit
Geschick und Energie bedient. Sein Lumpensammler ist ein Melodram von dem
schwersten Kaliber, es enthält Alles was ein gedankenloses Publikum nur kirren
und packen kauu, vornehme Niederträchtigkeit und plebejische Tugend, Wickel-
kinder und Kindesmord, falsche Zeugnisse und falsche Empfindsamkeit, und
nebst vielen anderen Ingredienzien ähnlicher Natur, Uuwahrscheiulichkeiten,
so haarsträubend, daß ich von der Verwunderung gar nicht zurückkommen
kann, wie der ganze Saal über einige derselben nicht in eiuen Sturm des
Erstaunens ausgebrochen ist. Das Publikum, das überhaupt nicht zum
ästhetischen Zionswächter berufen ist, wurde außerdem durch das Spiel Fre¬
deric Lcmaitre'S, der deu Lumpensammler mit unbeschreiblicher Vortrefflich-
keit gab, bestochen. Dieser berühmte Schauspieler, dessen ungebildetes Ta¬
lent den strengeren Forderungen wahrhaft dichterischer Werke gewöhnlich
unterliegt und der namentlich von den Feinheiten und der Musik der gebun¬
denen Rede nicht eine Ahnung zu haben scheint, steht doch höher als die
Melodramen, deren Hauptrollen ihm zufallen, und in Pyat's Lumpensammler
feierte er wirklich einen unvergleichlichen Triumph. Zornig und zärtlich,
lustig und betrübt, nüchtern und berauscht, Philosoph und Diplomat, er ist
das Alles mit unwiderstehlicher Wahrheit und Lebendigkeit. Da nun das
Stück auch sonst weit besser gespielt wird als die Tragödien des Theater Franyais
und des Odeon, so ist das Publikum sehr zu entschuldigen, daß es die
Gebrechen des Werks übersah, allein daß ein Theil der Kritik auch in den
Jubel mit einstimmte, ist bedenklich. Durch Nichts wird der gute Geschmack
tiefer untergraben als durch Melodramen wie Pyat's Lumpensammler. Das
ausgelassenste Melodram des Palais royal thut keinen Schaden; der Cy¬
nismus, mit genialer Heiterkeit getränkt, verliert sein Gift und, wie der
Tod, hat auch der Witz eine reinigende Kraft; allein ernsthafter Unverstand
und bodenloses Pathos, das ungeübten Ohren wie Weisheit klingt, ver¬
wirren die Begriffe und tödten alles Gefühl für wahre Schönheit. Hier
wäre es also die Aufgabe der Kritik energisch einzugreifen, und es ist zu
wünschen, daß die Recensenten jenseits des Rheins ihre Schuldigkeit besser
thun werden als die Montagsmänner in Paris.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/491>, abgerufen am 22.07.2024.