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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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auftreten und wurden auch ihre Forderungen (nach einer nicht lange Zeit
dauernden Geltung in gewissen Kreisen) von dem stimmberechtigten Publikum
größtentheils zurückgewiesen, so setzten sich doch anch aus dieser oft sehr trü¬
ben Gährung Bildungselemente ab, die anch der literarhistorischen Betrach¬
tung zu Gute kommen. Hier muß neben den schon erwähnten Schriftstellern
besonders L. Wien barg erwähnt werden, der die ästhetische Kritik dieser
Richtung mit Talent und entschiedener Gesinnung vertrat. Neben dem Stür¬
men und Drängen dieser jungen Literatur faßte und sammelte sich die von
dem freiern Geiste der neuen Zeit durchdrungene Wissenschaft zur gründlichen
Sichtung des zeither gesammelten Materials und zur pragmatischen Betrach¬
tung der literarischen Erscheinungen der nur erst in ihrer Abgeschlossenheit
concret hervortretenden Vergangenheit. Es erschien Gervinus Geschichte der
poetischen Nativnalliteratur der Deutschen 1885- 42 und wurde mit solchem
Beifall aufgenommen, daß in deu Jahren 1840--42 schon die zweite Auflage
des ganzen Werkes und 184" die dritte Auflage der ersten beiden Bände
erscheinen konnte -- eine Verbreitung, die bei einem so umfassenden Werke
bei uus noch nicht vorgekommen ist. Es würde unpassend sein, ein so all¬
gemein bekanntes und viel besprochenes Buch hier noch ausführlich besprechen
zu wollen. Gervinus hatte es sich zur Aufgabe gemacht, nach dem gründ¬
lichsten Studium der Quellen, um die sich viele der zeitherigen ästhetischen
Literaturhistoriker und praktischen Compendienschreiber wenig und nach sehr
subjectiven Belieben bekümmert hatten, den Entwickelungsgang des deutschen
Geistes in allen seinen verschiedenen Richtungen in einer umfassenden Dar¬
stellung zu reproduziren. Jede einzelne literarische Erscheinung wurde nun
erst im Zusammenhange mit dem Ganzen begriffen und gewürdigt: die be¬
deutenderen Dichtungen der verschiedensten Zeiten erschienen als Sprößlinge
eines Stammes, theils als gesunde Sprößlinge, welche allmälig erstarkend
Blüthen und Früchte trieben und neue Lebenskeime in sich trugen, theils als
entartete Triebe, welche nach Aufzehrung der vorhandenen Bildungskräfte
verkommen mußten je nach den Einwirkungen der ganzen geistigen Atmosphäre,
deren Elemente und Strömungen überall auf das Sinnreichste nachgewiesen
wurden. So erhielten wir eine von Geist und Leben durchdrungene prag¬
matische Geschichte unserer Literaturentwickelung, und wenn sie auch der Ver¬
fasser nur einen Versuch nannte, so wird es doch noch lange Zeit dauern, bis
ein gleichbegabter Historiker ein den später gesteigerten Bedürfnissen der vor¬
geschrittenen Bildung entsprechendes ähnliches Werk zu schreiben wagen wird
und, wenn es Einer thut, wird er im Wesentlichen nach den Grundsätzen
verfahren müssen, deren Befolgung das Buch von Gervinus zu einem klasst-,


auftreten und wurden auch ihre Forderungen (nach einer nicht lange Zeit
dauernden Geltung in gewissen Kreisen) von dem stimmberechtigten Publikum
größtentheils zurückgewiesen, so setzten sich doch anch aus dieser oft sehr trü¬
ben Gährung Bildungselemente ab, die anch der literarhistorischen Betrach¬
tung zu Gute kommen. Hier muß neben den schon erwähnten Schriftstellern
besonders L. Wien barg erwähnt werden, der die ästhetische Kritik dieser
Richtung mit Talent und entschiedener Gesinnung vertrat. Neben dem Stür¬
men und Drängen dieser jungen Literatur faßte und sammelte sich die von
dem freiern Geiste der neuen Zeit durchdrungene Wissenschaft zur gründlichen
Sichtung des zeither gesammelten Materials und zur pragmatischen Betrach¬
tung der literarischen Erscheinungen der nur erst in ihrer Abgeschlossenheit
concret hervortretenden Vergangenheit. Es erschien Gervinus Geschichte der
poetischen Nativnalliteratur der Deutschen 1885- 42 und wurde mit solchem
Beifall aufgenommen, daß in deu Jahren 1840—42 schon die zweite Auflage
des ganzen Werkes und 184« die dritte Auflage der ersten beiden Bände
erscheinen konnte — eine Verbreitung, die bei einem so umfassenden Werke
bei uus noch nicht vorgekommen ist. Es würde unpassend sein, ein so all¬
gemein bekanntes und viel besprochenes Buch hier noch ausführlich besprechen
zu wollen. Gervinus hatte es sich zur Aufgabe gemacht, nach dem gründ¬
lichsten Studium der Quellen, um die sich viele der zeitherigen ästhetischen
Literaturhistoriker und praktischen Compendienschreiber wenig und nach sehr
subjectiven Belieben bekümmert hatten, den Entwickelungsgang des deutschen
Geistes in allen seinen verschiedenen Richtungen in einer umfassenden Dar¬
stellung zu reproduziren. Jede einzelne literarische Erscheinung wurde nun
erst im Zusammenhange mit dem Ganzen begriffen und gewürdigt: die be¬
deutenderen Dichtungen der verschiedensten Zeiten erschienen als Sprößlinge
eines Stammes, theils als gesunde Sprößlinge, welche allmälig erstarkend
Blüthen und Früchte trieben und neue Lebenskeime in sich trugen, theils als
entartete Triebe, welche nach Aufzehrung der vorhandenen Bildungskräfte
verkommen mußten je nach den Einwirkungen der ganzen geistigen Atmosphäre,
deren Elemente und Strömungen überall auf das Sinnreichste nachgewiesen
wurden. So erhielten wir eine von Geist und Leben durchdrungene prag¬
matische Geschichte unserer Literaturentwickelung, und wenn sie auch der Ver¬
fasser nur einen Versuch nannte, so wird es doch noch lange Zeit dauern, bis
ein gleichbegabter Historiker ein den später gesteigerten Bedürfnissen der vor¬
geschrittenen Bildung entsprechendes ähnliches Werk zu schreiben wagen wird
und, wenn es Einer thut, wird er im Wesentlichen nach den Grundsätzen
verfahren müssen, deren Befolgung das Buch von Gervinus zu einem klasst-,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/386>, abgerufen am 22.07.2024.