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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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der Poesie des Mittelalters in einer geistreichen Uebersicht zusammenzustellen
und vom Standtpunkt der Hegel'schen Philosophie zu erläutern. Dies Buch
war damals Vielen zur Orientirung willkommen, mußte jedoch durch die bald
folgenden Arbeiten verdrängt werden. -- In der neuern Literatur dagegen
betheiligten sich die producirenden Meister selbst vielfach, jedoch nur im Ein¬
zelnen an der historisch-kritischen Betrachtung der deutschen Poesie. Was
Lessing, Herder, Goethe und Schiller dafür geleistet haben, ist
freilich schon so tief in das Bewußtsein der Zeit gedrungen, daß man kaum
mehr recht zu entscheiden vermag, was die Literaturgeschichte ihnen verdankt.
Etwas anders gestaltete es sich in dieser Beziehung mit den Bestrebungen
der Romantiker. Die große Befähigung der Koryphäen dieser Schule,
zur ästhetischen Literaturbetrachtung, die nicht geringe Prätension, mit der
sie auch ihrer eigenthümlichen Production Geltung verschaffen wollten und
endlich, ein allerdings nur dunkles Gefühl, daß sie trotz vielfacher und zum
Theil sehr begründeter Anerkennung dennoch mit ihrer ganzen Art hinter
der Energie und Fülle der zeitherigen Literaturentwickelung zurückbleiben
würden -- alles dies drängte sie zu einer umfassendern Betrachtung der
Literatur überhaupt und insbesondere der deutschen Literatur. Was in
dieser Beziehung die Gebrüder Schlegel und Tieck geleistet haben, war
nicht nur für ihre und die nächstfolgende Zeit bis zu dem Wendepunkt von
>8Z" von hoher Bedeutung, sondern es wird größtentheils noch Beachtung
finden, so lauge man sich überhaupt für deutsche Literatur interessiren wird.
Hierher gehören besonders die einzelnen Aufsätze im Athenäum seit 1798,
in den Charakteristiken und Kritiken seit I8l>1, ferner die Vorlesungen über
dramatische Kunst und Literatur, die Aug. Wilhelm Schlegel 1809, und die
Vorträge über die Geschichte der alten und neuen Literatur, welche sein
Bruder Friedrich 1,812 gehalten hat. In den beiden letzten Werken erhalten
wir allerdings ein größeres Ganze, aber von einer gründlichen und tiefen
Entwickelung unserer Literatur kann nicht die Rede sein. Es sind geistvolle
Uebersichten, zum Theil auf einem Gebiete, wo noch alle gründlichen Vor¬
arbeiten fehlten, bei Friedrich Schlegel leider oft getrübt durch die Befan¬
genheit des Standpunktes, den er damals bereits genommen hatte. Es ist
in der That schmerzlich zu sehen, wie sich die Schärfe seines Geistes ab¬
stumpft, wie sich seine klare Seele verdunkelt, wenn er Erscheinungen un¬
serer Literatur beurtheilen muß, die er auf jenem Standpunkte uicht mehr
frei beurtheilen durfte. Er ringt und quält sich ab in dem Streben, den
Forderungen der politischen und kirchlichen Ansichten zu genügen, die er sich
aufgedrungen hatte, ohne die Freiheit des Geistes aufgeben zu müssen, und


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der Poesie des Mittelalters in einer geistreichen Uebersicht zusammenzustellen
und vom Standtpunkt der Hegel'schen Philosophie zu erläutern. Dies Buch
war damals Vielen zur Orientirung willkommen, mußte jedoch durch die bald
folgenden Arbeiten verdrängt werden. — In der neuern Literatur dagegen
betheiligten sich die producirenden Meister selbst vielfach, jedoch nur im Ein¬
zelnen an der historisch-kritischen Betrachtung der deutschen Poesie. Was
Lessing, Herder, Goethe und Schiller dafür geleistet haben, ist
freilich schon so tief in das Bewußtsein der Zeit gedrungen, daß man kaum
mehr recht zu entscheiden vermag, was die Literaturgeschichte ihnen verdankt.
Etwas anders gestaltete es sich in dieser Beziehung mit den Bestrebungen
der Romantiker. Die große Befähigung der Koryphäen dieser Schule,
zur ästhetischen Literaturbetrachtung, die nicht geringe Prätension, mit der
sie auch ihrer eigenthümlichen Production Geltung verschaffen wollten und
endlich, ein allerdings nur dunkles Gefühl, daß sie trotz vielfacher und zum
Theil sehr begründeter Anerkennung dennoch mit ihrer ganzen Art hinter
der Energie und Fülle der zeitherigen Literaturentwickelung zurückbleiben
würden — alles dies drängte sie zu einer umfassendern Betrachtung der
Literatur überhaupt und insbesondere der deutschen Literatur. Was in
dieser Beziehung die Gebrüder Schlegel und Tieck geleistet haben, war
nicht nur für ihre und die nächstfolgende Zeit bis zu dem Wendepunkt von
>8Z» von hoher Bedeutung, sondern es wird größtentheils noch Beachtung
finden, so lauge man sich überhaupt für deutsche Literatur interessiren wird.
Hierher gehören besonders die einzelnen Aufsätze im Athenäum seit 1798,
in den Charakteristiken und Kritiken seit I8l>1, ferner die Vorlesungen über
dramatische Kunst und Literatur, die Aug. Wilhelm Schlegel 1809, und die
Vorträge über die Geschichte der alten und neuen Literatur, welche sein
Bruder Friedrich 1,812 gehalten hat. In den beiden letzten Werken erhalten
wir allerdings ein größeres Ganze, aber von einer gründlichen und tiefen
Entwickelung unserer Literatur kann nicht die Rede sein. Es sind geistvolle
Uebersichten, zum Theil auf einem Gebiete, wo noch alle gründlichen Vor¬
arbeiten fehlten, bei Friedrich Schlegel leider oft getrübt durch die Befan¬
genheit des Standpunktes, den er damals bereits genommen hatte. Es ist
in der That schmerzlich zu sehen, wie sich die Schärfe seines Geistes ab¬
stumpft, wie sich seine klare Seele verdunkelt, wenn er Erscheinungen un¬
serer Literatur beurtheilen muß, die er auf jenem Standpunkte uicht mehr
frei beurtheilen durfte. Er ringt und quält sich ab in dem Streben, den
Forderungen der politischen und kirchlichen Ansichten zu genügen, die er sich
aufgedrungen hatte, ohne die Freiheit des Geistes aufgeben zu müssen, und


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[0383] der Poesie des Mittelalters in einer geistreichen Uebersicht zusammenzustellen und vom Standtpunkt der Hegel'schen Philosophie zu erläutern. Dies Buch war damals Vielen zur Orientirung willkommen, mußte jedoch durch die bald folgenden Arbeiten verdrängt werden. — In der neuern Literatur dagegen betheiligten sich die producirenden Meister selbst vielfach, jedoch nur im Ein¬ zelnen an der historisch-kritischen Betrachtung der deutschen Poesie. Was Lessing, Herder, Goethe und Schiller dafür geleistet haben, ist freilich schon so tief in das Bewußtsein der Zeit gedrungen, daß man kaum mehr recht zu entscheiden vermag, was die Literaturgeschichte ihnen verdankt. Etwas anders gestaltete es sich in dieser Beziehung mit den Bestrebungen der Romantiker. Die große Befähigung der Koryphäen dieser Schule, zur ästhetischen Literaturbetrachtung, die nicht geringe Prätension, mit der sie auch ihrer eigenthümlichen Production Geltung verschaffen wollten und endlich, ein allerdings nur dunkles Gefühl, daß sie trotz vielfacher und zum Theil sehr begründeter Anerkennung dennoch mit ihrer ganzen Art hinter der Energie und Fülle der zeitherigen Literaturentwickelung zurückbleiben würden — alles dies drängte sie zu einer umfassendern Betrachtung der Literatur überhaupt und insbesondere der deutschen Literatur. Was in dieser Beziehung die Gebrüder Schlegel und Tieck geleistet haben, war nicht nur für ihre und die nächstfolgende Zeit bis zu dem Wendepunkt von >8Z» von hoher Bedeutung, sondern es wird größtentheils noch Beachtung finden, so lauge man sich überhaupt für deutsche Literatur interessiren wird. Hierher gehören besonders die einzelnen Aufsätze im Athenäum seit 1798, in den Charakteristiken und Kritiken seit I8l>1, ferner die Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, die Aug. Wilhelm Schlegel 1809, und die Vorträge über die Geschichte der alten und neuen Literatur, welche sein Bruder Friedrich 1,812 gehalten hat. In den beiden letzten Werken erhalten wir allerdings ein größeres Ganze, aber von einer gründlichen und tiefen Entwickelung unserer Literatur kann nicht die Rede sein. Es sind geistvolle Uebersichten, zum Theil auf einem Gebiete, wo noch alle gründlichen Vor¬ arbeiten fehlten, bei Friedrich Schlegel leider oft getrübt durch die Befan¬ genheit des Standpunktes, den er damals bereits genommen hatte. Es ist in der That schmerzlich zu sehen, wie sich die Schärfe seines Geistes ab¬ stumpft, wie sich seine klare Seele verdunkelt, wenn er Erscheinungen un¬ serer Literatur beurtheilen muß, die er auf jenem Standpunkte uicht mehr frei beurtheilen durfte. Er ringt und quält sich ab in dem Streben, den Forderungen der politischen und kirchlichen Ansichten zu genügen, die er sich aufgedrungen hatte, ohne die Freiheit des Geistes aufgeben zu müssen, und 49*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/383>, abgerufen am 03.07.2024.