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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Advocat Müllner als kritischer Dictator Bedeutung und die z. B. in Dresden
im Liederkreise gepflegte gehaltlose Schönthuerei eine Art von Anerkennung
erlangen. Doch dies ist nur die Entartung jener Naivetät, welche damals bei
alten wie bei jungen Leuten vielfach wahrgenommen wurde. Die Besseren
unter ihnen hielten unbethvrt und ungestört durch solches verkehrtes Treiben
an der frühern geistigen Errungenschaft fest und bildeten daran ihren Ge¬
schmack und ihren Geist zur Theilnahme an den Kämpfen der folgenden be¬
wegten Zeit. Das dadurch immer allgemeiner verbreitete Verständniß der
großen Dichter unserer bereits vollendeten literarischen Glanzperiode, so wie
die seit I. Grimm's Hervortreten im Stillen immer reicher entwickelte
Blüthe der altdeutschen Philologie, bereitete demnach zu einer allseitigen und
zusammenhängenden wahrhaft historischen Betrachtung unserer Literatur vor,
welche mit glücklichem Erfolge versucht und mit entschiedenem Beifalle auf¬
genommen werden mußte, sobald sich in den durch Börne, Heine und
W. Menzel vorbereiteten und seit dem Jahre 1830 entschiedener wirksamen
Bewegungen im politischen und literarischen Leben Deutschlands das Be¬
wußtsein gebildet hatte, daß nun eine Cultur - und Literatnrepoche zum
Abschluß gekommen sei. Es war bekanntlich Gervinus, der zuerst eine
wirkliche Geschichte der deutschen Nationalliteratur schrieb; mit ihm beginnt
also die Geschichtschreibung der deutschen Literatur.

Sehen wir uns aber, ehe wir dieses so bedeutende Ereigniß unserer
Geschichtschreibung mit den dazu vorbereitenden Momenten und in seinen
Erfolgen genauer betrachten, nach dem um, was schon vorher im Einzelnen
wie im Ganzen für Literaturgeschichte geleistet worden war. Für die äl¬
tere Zeit unserer Literatur beginnt seit Boden er einige Theilnahme zu
erwachen. Wie gering diese noch war, zeigt am besten das herbe Urtheil,
mit dem der große Friedrich das von Christoph Heinrich Müller heraus¬
gegebene Nibelungenlied zurückwies: "dies Buch sei keinen Schuß Pulver
werth und er würde es, wenn es in seiner Bibliothek wäre, herausschmei¬
ßen," ein Urtheil, welches damals keinen Anstoß fand. Erst die Roman¬
tiker erschlossen deu Sinn ihrer Landsleute für die mittelalterliche Poesie,
doch mehr ästhetisch als historisch. Die ächt historische Auffassung entwickelte
sich dagegen erst durch die grammatischen und historischen Arbeiten der Ge¬
brüder Grimm, Benecke's, Uhland's, Lachmann's, Schneller's,
Graff's und anderer Philologen, die zum Theil noch jetzt mit jüngern
Studiengenossen, wie Haupt, Wackernagel, Simrock und andern auf
diesem Gebiete rühmlichst fortarbeiten. ^ Was bis zum Jahre l 830 auf die¬
sem Gebiete gewonnen worden war, suchte Rosenkranz in seiner Geschichte


Advocat Müllner als kritischer Dictator Bedeutung und die z. B. in Dresden
im Liederkreise gepflegte gehaltlose Schönthuerei eine Art von Anerkennung
erlangen. Doch dies ist nur die Entartung jener Naivetät, welche damals bei
alten wie bei jungen Leuten vielfach wahrgenommen wurde. Die Besseren
unter ihnen hielten unbethvrt und ungestört durch solches verkehrtes Treiben
an der frühern geistigen Errungenschaft fest und bildeten daran ihren Ge¬
schmack und ihren Geist zur Theilnahme an den Kämpfen der folgenden be¬
wegten Zeit. Das dadurch immer allgemeiner verbreitete Verständniß der
großen Dichter unserer bereits vollendeten literarischen Glanzperiode, so wie
die seit I. Grimm's Hervortreten im Stillen immer reicher entwickelte
Blüthe der altdeutschen Philologie, bereitete demnach zu einer allseitigen und
zusammenhängenden wahrhaft historischen Betrachtung unserer Literatur vor,
welche mit glücklichem Erfolge versucht und mit entschiedenem Beifalle auf¬
genommen werden mußte, sobald sich in den durch Börne, Heine und
W. Menzel vorbereiteten und seit dem Jahre 1830 entschiedener wirksamen
Bewegungen im politischen und literarischen Leben Deutschlands das Be¬
wußtsein gebildet hatte, daß nun eine Cultur - und Literatnrepoche zum
Abschluß gekommen sei. Es war bekanntlich Gervinus, der zuerst eine
wirkliche Geschichte der deutschen Nationalliteratur schrieb; mit ihm beginnt
also die Geschichtschreibung der deutschen Literatur.

Sehen wir uns aber, ehe wir dieses so bedeutende Ereigniß unserer
Geschichtschreibung mit den dazu vorbereitenden Momenten und in seinen
Erfolgen genauer betrachten, nach dem um, was schon vorher im Einzelnen
wie im Ganzen für Literaturgeschichte geleistet worden war. Für die äl¬
tere Zeit unserer Literatur beginnt seit Boden er einige Theilnahme zu
erwachen. Wie gering diese noch war, zeigt am besten das herbe Urtheil,
mit dem der große Friedrich das von Christoph Heinrich Müller heraus¬
gegebene Nibelungenlied zurückwies: „dies Buch sei keinen Schuß Pulver
werth und er würde es, wenn es in seiner Bibliothek wäre, herausschmei¬
ßen," ein Urtheil, welches damals keinen Anstoß fand. Erst die Roman¬
tiker erschlossen deu Sinn ihrer Landsleute für die mittelalterliche Poesie,
doch mehr ästhetisch als historisch. Die ächt historische Auffassung entwickelte
sich dagegen erst durch die grammatischen und historischen Arbeiten der Ge¬
brüder Grimm, Benecke's, Uhland's, Lachmann's, Schneller's,
Graff's und anderer Philologen, die zum Theil noch jetzt mit jüngern
Studiengenossen, wie Haupt, Wackernagel, Simrock und andern auf
diesem Gebiete rühmlichst fortarbeiten. ^ Was bis zum Jahre l 830 auf die¬
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[0382] Advocat Müllner als kritischer Dictator Bedeutung und die z. B. in Dresden im Liederkreise gepflegte gehaltlose Schönthuerei eine Art von Anerkennung erlangen. Doch dies ist nur die Entartung jener Naivetät, welche damals bei alten wie bei jungen Leuten vielfach wahrgenommen wurde. Die Besseren unter ihnen hielten unbethvrt und ungestört durch solches verkehrtes Treiben an der frühern geistigen Errungenschaft fest und bildeten daran ihren Ge¬ schmack und ihren Geist zur Theilnahme an den Kämpfen der folgenden be¬ wegten Zeit. Das dadurch immer allgemeiner verbreitete Verständniß der großen Dichter unserer bereits vollendeten literarischen Glanzperiode, so wie die seit I. Grimm's Hervortreten im Stillen immer reicher entwickelte Blüthe der altdeutschen Philologie, bereitete demnach zu einer allseitigen und zusammenhängenden wahrhaft historischen Betrachtung unserer Literatur vor, welche mit glücklichem Erfolge versucht und mit entschiedenem Beifalle auf¬ genommen werden mußte, sobald sich in den durch Börne, Heine und W. Menzel vorbereiteten und seit dem Jahre 1830 entschiedener wirksamen Bewegungen im politischen und literarischen Leben Deutschlands das Be¬ wußtsein gebildet hatte, daß nun eine Cultur - und Literatnrepoche zum Abschluß gekommen sei. Es war bekanntlich Gervinus, der zuerst eine wirkliche Geschichte der deutschen Nationalliteratur schrieb; mit ihm beginnt also die Geschichtschreibung der deutschen Literatur. Sehen wir uns aber, ehe wir dieses so bedeutende Ereigniß unserer Geschichtschreibung mit den dazu vorbereitenden Momenten und in seinen Erfolgen genauer betrachten, nach dem um, was schon vorher im Einzelnen wie im Ganzen für Literaturgeschichte geleistet worden war. Für die äl¬ tere Zeit unserer Literatur beginnt seit Boden er einige Theilnahme zu erwachen. Wie gering diese noch war, zeigt am besten das herbe Urtheil, mit dem der große Friedrich das von Christoph Heinrich Müller heraus¬ gegebene Nibelungenlied zurückwies: „dies Buch sei keinen Schuß Pulver werth und er würde es, wenn es in seiner Bibliothek wäre, herausschmei¬ ßen," ein Urtheil, welches damals keinen Anstoß fand. Erst die Roman¬ tiker erschlossen deu Sinn ihrer Landsleute für die mittelalterliche Poesie, doch mehr ästhetisch als historisch. Die ächt historische Auffassung entwickelte sich dagegen erst durch die grammatischen und historischen Arbeiten der Ge¬ brüder Grimm, Benecke's, Uhland's, Lachmann's, Schneller's, Graff's und anderer Philologen, die zum Theil noch jetzt mit jüngern Studiengenossen, wie Haupt, Wackernagel, Simrock und andern auf diesem Gebiete rühmlichst fortarbeiten. ^ Was bis zum Jahre l 830 auf die¬ sem Gebiete gewonnen worden war, suchte Rosenkranz in seiner Geschichte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/382>, abgerufen am 01.07.2024.