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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Es gibt wenig Menschen, die Berlin mit Gleichgültigkeit verlassen,
entweder sie hassen es oder sie lieben es, entweder die Stadt hat sie tief-
innerlich verletzt oder sie hat sie gereizt und magnetisch angezogen. Die
Zahl der Ersteren ist in Mehrheit, dennoch wird Berlin, eben weil es eine
bedeutende Individualität ist, Viele aus Neugier, ans Interesse anlocken.
Es läßt sich zwar annehmen, daß die Mehrzahl der Ausländer, die einen
Winter dort verlebten, den nächsten Winter nicht wiederkommen wird, doch
wird die Zahl der Zuströmenden immer größer werden, denn "wo Tauben
sind fliegen Tauben zu", ein Sprüchwort, das auch vou Vögeln gilt, die
grade keine Tauben sind. Für Dresden bleibt es immer eine gefährliche
uutermittirende Concurrenz, denn die kleinere Stadt fühlt jeden Abzug der
ihr gemacht wird.

So ist auch in der abgelaufenen Jahreszeit vou den Dresdner Einwoh¬
nern über die Abnahme der Fremden, die hier gewohnheitsmäßig ihre Win¬
terquartiere nahmen, viel geklagt worden. Engländer namentlich gab es in
sehr spärlicher Zahl. Die Russen siud seit I8.'i0 ohnehin immer seltner
geworden. Ihre Constitution konnte die sächsische nicht vertragen und der
weise Czar sieht sie lieber anderwärts, wo der propagandistische Rubel ein¬
flußreichere Seelen gewinnen kann und von wo aus die Geueraladjutauteu
und Staatsräthe geheime Depeschen über Dinge senden können, die nicht in
den Zeitungen zu lesen sind. Nur die Polen siud Dresden tren geblieben.
Wie sollten sie nicht? Ist es doch hier, wo sie auf freier Erde durch viel¬
fache historische Beziehungen sich zurückerinnern können an die Zeit, wo der
weiße Adler noch uuverstümmelt sein Köuigshaupt erhob? Sachsen hat sich
aus Anhänglichkeit für jene historischen Bezüge immer am freundlichsten
gegen die Polen gezeigt und nicht blos wenn sie ihre Einkünfte zu verzeh¬
ren sich hier niederließen, sondern auch, wenn sie als Flüchtlinge Schuß
suchten, in dem Lande, das einst unter einem Herrscher mit ihnen stand.
Die Tissowskysche Episode ist ein schönes Blatt in der sächsischen Tages¬
chronik. Möge es der Regierung ein Beispiel sein, wie sehr Standhaftig-
keit sich belohnt, auch wenn sie gegen mächtige Nachbarn gerichtet ist. Als
im vorigen Jahre der Aufstand in Galizien und Posen ausbrach, enthielt
eine der ersten Depeschen Guizots (an den Grafen Flvhault in Wien) die
Weisung, den polnischen Flüchtlingen, die Pässe nach Frankreich verlangten,
solche ohne Verzug zu ertheilen. "Die französische Negierung" -- sagte
Guizot in dieser Depesche -- "wünscht sich Glück zu der Macht, die sie in
den. Stand setzt, den Unglücklichen ein Asyl zu geben und gleichzeitig dem
Wiener Kabinet jene Mäßiguugs- und Klugheitspolitik zu erleichtern, die es


Es gibt wenig Menschen, die Berlin mit Gleichgültigkeit verlassen,
entweder sie hassen es oder sie lieben es, entweder die Stadt hat sie tief-
innerlich verletzt oder sie hat sie gereizt und magnetisch angezogen. Die
Zahl der Ersteren ist in Mehrheit, dennoch wird Berlin, eben weil es eine
bedeutende Individualität ist, Viele aus Neugier, ans Interesse anlocken.
Es läßt sich zwar annehmen, daß die Mehrzahl der Ausländer, die einen
Winter dort verlebten, den nächsten Winter nicht wiederkommen wird, doch
wird die Zahl der Zuströmenden immer größer werden, denn „wo Tauben
sind fliegen Tauben zu", ein Sprüchwort, das auch vou Vögeln gilt, die
grade keine Tauben sind. Für Dresden bleibt es immer eine gefährliche
uutermittirende Concurrenz, denn die kleinere Stadt fühlt jeden Abzug der
ihr gemacht wird.

So ist auch in der abgelaufenen Jahreszeit vou den Dresdner Einwoh¬
nern über die Abnahme der Fremden, die hier gewohnheitsmäßig ihre Win¬
terquartiere nahmen, viel geklagt worden. Engländer namentlich gab es in
sehr spärlicher Zahl. Die Russen siud seit I8.'i0 ohnehin immer seltner
geworden. Ihre Constitution konnte die sächsische nicht vertragen und der
weise Czar sieht sie lieber anderwärts, wo der propagandistische Rubel ein¬
flußreichere Seelen gewinnen kann und von wo aus die Geueraladjutauteu
und Staatsräthe geheime Depeschen über Dinge senden können, die nicht in
den Zeitungen zu lesen sind. Nur die Polen siud Dresden tren geblieben.
Wie sollten sie nicht? Ist es doch hier, wo sie auf freier Erde durch viel¬
fache historische Beziehungen sich zurückerinnern können an die Zeit, wo der
weiße Adler noch uuverstümmelt sein Köuigshaupt erhob? Sachsen hat sich
aus Anhänglichkeit für jene historischen Bezüge immer am freundlichsten
gegen die Polen gezeigt und nicht blos wenn sie ihre Einkünfte zu verzeh¬
ren sich hier niederließen, sondern auch, wenn sie als Flüchtlinge Schuß
suchten, in dem Lande, das einst unter einem Herrscher mit ihnen stand.
Die Tissowskysche Episode ist ein schönes Blatt in der sächsischen Tages¬
chronik. Möge es der Regierung ein Beispiel sein, wie sehr Standhaftig-
keit sich belohnt, auch wenn sie gegen mächtige Nachbarn gerichtet ist. Als
im vorigen Jahre der Aufstand in Galizien und Posen ausbrach, enthielt
eine der ersten Depeschen Guizots (an den Grafen Flvhault in Wien) die
Weisung, den polnischen Flüchtlingen, die Pässe nach Frankreich verlangten,
solche ohne Verzug zu ertheilen. „Die französische Negierung" — sagte
Guizot in dieser Depesche — „wünscht sich Glück zu der Macht, die sie in
den. Stand setzt, den Unglücklichen ein Asyl zu geben und gleichzeitig dem
Wiener Kabinet jene Mäßiguugs- und Klugheitspolitik zu erleichtern, die es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/28>, abgerufen am 03.07.2024.