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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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diese" Geist der Bewegung, der selbst die entgegenstrebende Gesinnung nicht
unberührt läßt. Es ist eine Religion, ein Evangelium, das, auch un¬
verstanden, die Herzen mit sich fortreißt; eine Religion, die ihre Märtyrer
und ihre Opfer hat, so gut wie die frohe Botschaft von Golgatha. Sie
ist nicht mehr so jung diese Religion, als sie das Ansehn hat. Die Reihe
ihrer Propheten durchzieht, ein rother Faden, die verworrene Geschichte des
Mittelalters. Denkt an die Scheiterhaufen der Inquisition! Es waren die
Propheten des neuen Glaubens, die ihr Bekenntniß durch den Tod besie-
gelten. Denkt an die Heldengestalten der Hohenstaufen! Wenn ihr Unter¬
gang euch zu Herzen geht, so ist das nicht ein blos ästhetisches Interesse,
es ist ein sittliches Mitgefühl; sie waren unsre Glaubensgenossen. Der Geist
webte noch im Verborgenen; er trat in Sehnsucht, in willkürlicher Gewalt,
in dunkler Ahnung hervor; er machte sich endlich in einer ihm eigentlich
fremden Sprache, in dem glühenden Glauben der Reformation Luft. Luther
fand das Wort, an welches das Gefühl sich halten konnte, den Glauben.
Aus der festen, unerschütterlichen Gewißheit, daß durch den Opfertod eines
Gottmenschen das Geschlecht erlöst sei, sollte die wirkliche Erlösung der Welt
erblühen. Denn mir der Glaube gibt Muth zur Freiheit und zum Guten.
Und welches war die Weltanschauung, ans der dieser Glaube an die Zu¬
kunft entsprang? Die Natur des Menschen ist böse, denn sie ist die Ver-
einzelung, der Egoismus. Erst der ans seiner Natur herausgetretene, der
durch deu Glauben an den Gottmenschen wiedergeborene Mensch ist der
währe Mensch, ewigen Lebens theilhaftig. Nur indem der Mensch aus der
Vereinzelung seines Egoismus heraustritt, wird er frei von der Gewalt der
Natur. Nur im Kampf gegen das Wirkliche kann sich der Glaube realisiren;
um innerhalb des Wirklichen ist das Reich der Verheißung aufzubauen. Bei ¬
des widerspricht sich nicht, der eine Gedanke ist die Ergänzung des andern.
Denn was gab jener Glaube den Menschen für eine Bedeutung? Der
Mensch ist in den Banden der Natur, und im Bösen; aber er ist rechtlich
frei und er kann dieses Recht der Freiheit bethätigen, wenn er das Bild
des Gottmenschen dnrch den lebendigen Glauben in sich zur Wahrheit bringt.
Dieses Recht der Freiheit ist seine Bestimmung. Der Mensch ist an be¬
stimmte, endliche, geistlose Verhältnisse gekettet, die man zufällig nennen
muß, so lange man sie in ihrer Vereinzelung ansieht. Die Verwickelungen
des Egoismus bringen eine Gesellschaft hervor, in welcher der Eine seinen
Fuß auf den Nacken des Andern setzt. Aber an sich sind alle Menschen
gleich; es ist ein Adel in ihrer Natur, deun sie Alle hat sich Gott am
Kreuze geopfert. Durch den Glauben an diesen Adel der menschlichen Natur


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diese» Geist der Bewegung, der selbst die entgegenstrebende Gesinnung nicht
unberührt läßt. Es ist eine Religion, ein Evangelium, das, auch un¬
verstanden, die Herzen mit sich fortreißt; eine Religion, die ihre Märtyrer
und ihre Opfer hat, so gut wie die frohe Botschaft von Golgatha. Sie
ist nicht mehr so jung diese Religion, als sie das Ansehn hat. Die Reihe
ihrer Propheten durchzieht, ein rother Faden, die verworrene Geschichte des
Mittelalters. Denkt an die Scheiterhaufen der Inquisition! Es waren die
Propheten des neuen Glaubens, die ihr Bekenntniß durch den Tod besie-
gelten. Denkt an die Heldengestalten der Hohenstaufen! Wenn ihr Unter¬
gang euch zu Herzen geht, so ist das nicht ein blos ästhetisches Interesse,
es ist ein sittliches Mitgefühl; sie waren unsre Glaubensgenossen. Der Geist
webte noch im Verborgenen; er trat in Sehnsucht, in willkürlicher Gewalt,
in dunkler Ahnung hervor; er machte sich endlich in einer ihm eigentlich
fremden Sprache, in dem glühenden Glauben der Reformation Luft. Luther
fand das Wort, an welches das Gefühl sich halten konnte, den Glauben.
Aus der festen, unerschütterlichen Gewißheit, daß durch den Opfertod eines
Gottmenschen das Geschlecht erlöst sei, sollte die wirkliche Erlösung der Welt
erblühen. Denn mir der Glaube gibt Muth zur Freiheit und zum Guten.
Und welches war die Weltanschauung, ans der dieser Glaube an die Zu¬
kunft entsprang? Die Natur des Menschen ist böse, denn sie ist die Ver-
einzelung, der Egoismus. Erst der ans seiner Natur herausgetretene, der
durch deu Glauben an den Gottmenschen wiedergeborene Mensch ist der
währe Mensch, ewigen Lebens theilhaftig. Nur indem der Mensch aus der
Vereinzelung seines Egoismus heraustritt, wird er frei von der Gewalt der
Natur. Nur im Kampf gegen das Wirkliche kann sich der Glaube realisiren;
um innerhalb des Wirklichen ist das Reich der Verheißung aufzubauen. Bei ¬
des widerspricht sich nicht, der eine Gedanke ist die Ergänzung des andern.
Denn was gab jener Glaube den Menschen für eine Bedeutung? Der
Mensch ist in den Banden der Natur, und im Bösen; aber er ist rechtlich
frei und er kann dieses Recht der Freiheit bethätigen, wenn er das Bild
des Gottmenschen dnrch den lebendigen Glauben in sich zur Wahrheit bringt.
Dieses Recht der Freiheit ist seine Bestimmung. Der Mensch ist an be¬
stimmte, endliche, geistlose Verhältnisse gekettet, die man zufällig nennen
muß, so lange man sie in ihrer Vereinzelung ansieht. Die Verwickelungen
des Egoismus bringen eine Gesellschaft hervor, in welcher der Eine seinen
Fuß auf den Nacken des Andern setzt. Aber an sich sind alle Menschen
gleich; es ist ein Adel in ihrer Natur, deun sie Alle hat sich Gott am
Kreuze geopfert. Durch den Glauben an diesen Adel der menschlichen Natur


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[0215] diese» Geist der Bewegung, der selbst die entgegenstrebende Gesinnung nicht unberührt läßt. Es ist eine Religion, ein Evangelium, das, auch un¬ verstanden, die Herzen mit sich fortreißt; eine Religion, die ihre Märtyrer und ihre Opfer hat, so gut wie die frohe Botschaft von Golgatha. Sie ist nicht mehr so jung diese Religion, als sie das Ansehn hat. Die Reihe ihrer Propheten durchzieht, ein rother Faden, die verworrene Geschichte des Mittelalters. Denkt an die Scheiterhaufen der Inquisition! Es waren die Propheten des neuen Glaubens, die ihr Bekenntniß durch den Tod besie- gelten. Denkt an die Heldengestalten der Hohenstaufen! Wenn ihr Unter¬ gang euch zu Herzen geht, so ist das nicht ein blos ästhetisches Interesse, es ist ein sittliches Mitgefühl; sie waren unsre Glaubensgenossen. Der Geist webte noch im Verborgenen; er trat in Sehnsucht, in willkürlicher Gewalt, in dunkler Ahnung hervor; er machte sich endlich in einer ihm eigentlich fremden Sprache, in dem glühenden Glauben der Reformation Luft. Luther fand das Wort, an welches das Gefühl sich halten konnte, den Glauben. Aus der festen, unerschütterlichen Gewißheit, daß durch den Opfertod eines Gottmenschen das Geschlecht erlöst sei, sollte die wirkliche Erlösung der Welt erblühen. Denn mir der Glaube gibt Muth zur Freiheit und zum Guten. Und welches war die Weltanschauung, ans der dieser Glaube an die Zu¬ kunft entsprang? Die Natur des Menschen ist böse, denn sie ist die Ver- einzelung, der Egoismus. Erst der ans seiner Natur herausgetretene, der durch deu Glauben an den Gottmenschen wiedergeborene Mensch ist der währe Mensch, ewigen Lebens theilhaftig. Nur indem der Mensch aus der Vereinzelung seines Egoismus heraustritt, wird er frei von der Gewalt der Natur. Nur im Kampf gegen das Wirkliche kann sich der Glaube realisiren; um innerhalb des Wirklichen ist das Reich der Verheißung aufzubauen. Bei ¬ des widerspricht sich nicht, der eine Gedanke ist die Ergänzung des andern. Denn was gab jener Glaube den Menschen für eine Bedeutung? Der Mensch ist in den Banden der Natur, und im Bösen; aber er ist rechtlich frei und er kann dieses Recht der Freiheit bethätigen, wenn er das Bild des Gottmenschen dnrch den lebendigen Glauben in sich zur Wahrheit bringt. Dieses Recht der Freiheit ist seine Bestimmung. Der Mensch ist an be¬ stimmte, endliche, geistlose Verhältnisse gekettet, die man zufällig nennen muß, so lange man sie in ihrer Vereinzelung ansieht. Die Verwickelungen des Egoismus bringen eine Gesellschaft hervor, in welcher der Eine seinen Fuß auf den Nacken des Andern setzt. Aber an sich sind alle Menschen gleich; es ist ein Adel in ihrer Natur, deun sie Alle hat sich Gott am Kreuze geopfert. Durch den Glauben an diesen Adel der menschlichen Natur 27*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/215>, abgerufen am 01.07.2024.