Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Rede, und wie sehr man auch immer die Salbung des theologischen Wesens ver¬
meiden möge, so ist es doch für Männer, bei denen der Verstand vorwiegt, schwer,
sich gegenseitig erbauen zu wollen, eine Form der Andacht aufzufinden, die, ohne
einen bestimmten, praktischen Zweck zu haben, und ohne auf das eigentlich eben so
praktische, wenn auch phantastische Ziel des himmlischen Reichs zu blicken, dennoch
das Gemüth dauernd beschäftigen und befriedigen soll. Zu einer Religionsgesell¬
schaft fehlt ihr der religiöse Inhalt, zu einer andern der bestimmte Zweck; sie wird,
wenn sie consequent fortgeht, immer mehr uach eiuer Ressource zu gesellige", be¬
lehrenden nud unterhaltenden Zwecken, als "ach etwas anderen aussehen.

Wie dem auch sei, Niemand wird Wisliccuus deu Ruhm streitig macheu, ein
ehrlicher, tapferer und gewissenhafter Mann zu sein. Für seine Ueberzeugung nicht
nur seine eigne Existenz, sondern auch die einer zahlreichen Familie auf's Spiel
zu setzen; in einer Zeit der Lüge und Halbheit den Muth zu haben, rücksichtlos
und ohne Bedenken nur dem eignen Gewissen und der eiguen Vernunft zu folgen
-- wer darüber spotten kann, der gesellt sich zu den unsittlichen, ehr- nud gesin-
nungslosen Sophisten, die der Reaction dienen, und von ihr eben so verachtet
werden, wie von ihren Gegnern.

Die neulich erfolgte Suspension Uhlichs und die daraus unbedingt hervor¬
gehende Ueberzeugung von der Tendenz des Kirchenregiments, den Rationalismus
geradezu vou der Kirche auszuschließen, hat denn zur Bildung einer größeren
freien, aber christlichen Gemeinde geführt, welche das neue NeligiouScdict anerkennt,
und sich, wenn auch mit dem Vorbehalt der Appellation an die evangelische Kirche
überhaupt, wenigstens vorläufig als Secte constituirt, und die in jenem Edict den
Secten zugesicherte Religionsfreiheit beansprucht.

Sie ging hervor aus einem Vertrag der deutschkatholischen Gemeinde und
der Lichtfreunde; die Anhänger des Wislicenus schlössen sich ans, weil sie sich
nicht weiter mit Formen abgeben wollten, deren UnHaltbarkeit sie eingesehen zu
haben glaubten. Sie haben Recht daran gethan, denn ans jenem halben Wesen
wird nichts hervorgehen. Der Buchhändler Schwetschke, das eigentliche Haupt
dieser als Secte constituirten Rationalisten, ist ein ehremverther Mann, aber
nichts weniger als ein Prophet. Von bedeutenderen, namentlich wissenschaftlich
gebildeten Männern hat sich, so viel mir bekannt ist, niemand der neuen abstract
christlichen Kirche angeschlossen. Man kann dagegen nichts einwenden, denn so
lauge mau in der alten, legitimen, positiven Kirche bleibt, fühlt man ihren Druck
nicht -- höchstens in äußeren Formen, die mehr dem Staat, als der Religion
angehören; ans der Kirche darf nicht austreten, wer nicht hineingeht; wenn man
dagegen sich der neuen Verbindung anschließt, macht mau sich solidarisch für Al¬
les verantwortlich, was darin gelehrt und angestrebt wird.

Religiöse Productivität darf man hier also nicht erwarten. Eine andere
Frage wäre es, ob diese kirchliche" Spaltungen nicht politisch förderlich sein könn-


07 *

Rede, und wie sehr man auch immer die Salbung des theologischen Wesens ver¬
meiden möge, so ist es doch für Männer, bei denen der Verstand vorwiegt, schwer,
sich gegenseitig erbauen zu wollen, eine Form der Andacht aufzufinden, die, ohne
einen bestimmten, praktischen Zweck zu haben, und ohne auf das eigentlich eben so
praktische, wenn auch phantastische Ziel des himmlischen Reichs zu blicken, dennoch
das Gemüth dauernd beschäftigen und befriedigen soll. Zu einer Religionsgesell¬
schaft fehlt ihr der religiöse Inhalt, zu einer andern der bestimmte Zweck; sie wird,
wenn sie consequent fortgeht, immer mehr uach eiuer Ressource zu gesellige», be¬
lehrenden nud unterhaltenden Zwecken, als «ach etwas anderen aussehen.

Wie dem auch sei, Niemand wird Wisliccuus deu Ruhm streitig macheu, ein
ehrlicher, tapferer und gewissenhafter Mann zu sein. Für seine Ueberzeugung nicht
nur seine eigne Existenz, sondern auch die einer zahlreichen Familie auf's Spiel
zu setzen; in einer Zeit der Lüge und Halbheit den Muth zu haben, rücksichtlos
und ohne Bedenken nur dem eignen Gewissen und der eiguen Vernunft zu folgen
— wer darüber spotten kann, der gesellt sich zu den unsittlichen, ehr- nud gesin-
nungslosen Sophisten, die der Reaction dienen, und von ihr eben so verachtet
werden, wie von ihren Gegnern.

Die neulich erfolgte Suspension Uhlichs und die daraus unbedingt hervor¬
gehende Ueberzeugung von der Tendenz des Kirchenregiments, den Rationalismus
geradezu vou der Kirche auszuschließen, hat denn zur Bildung einer größeren
freien, aber christlichen Gemeinde geführt, welche das neue NeligiouScdict anerkennt,
und sich, wenn auch mit dem Vorbehalt der Appellation an die evangelische Kirche
überhaupt, wenigstens vorläufig als Secte constituirt, und die in jenem Edict den
Secten zugesicherte Religionsfreiheit beansprucht.

Sie ging hervor aus einem Vertrag der deutschkatholischen Gemeinde und
der Lichtfreunde; die Anhänger des Wislicenus schlössen sich ans, weil sie sich
nicht weiter mit Formen abgeben wollten, deren UnHaltbarkeit sie eingesehen zu
haben glaubten. Sie haben Recht daran gethan, denn ans jenem halben Wesen
wird nichts hervorgehen. Der Buchhändler Schwetschke, das eigentliche Haupt
dieser als Secte constituirten Rationalisten, ist ein ehremverther Mann, aber
nichts weniger als ein Prophet. Von bedeutenderen, namentlich wissenschaftlich
gebildeten Männern hat sich, so viel mir bekannt ist, niemand der neuen abstract
christlichen Kirche angeschlossen. Man kann dagegen nichts einwenden, denn so
lauge mau in der alten, legitimen, positiven Kirche bleibt, fühlt man ihren Druck
nicht — höchstens in äußeren Formen, die mehr dem Staat, als der Religion
angehören; ans der Kirche darf nicht austreten, wer nicht hineingeht; wenn man
dagegen sich der neuen Verbindung anschließt, macht mau sich solidarisch für Al¬
les verantwortlich, was darin gelehrt und angestrebt wird.

Religiöse Productivität darf man hier also nicht erwarten. Eine andere
Frage wäre es, ob diese kirchliche» Spaltungen nicht politisch förderlich sein könn-


07 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0527" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185291"/>
            <p xml:id="ID_1775" prev="#ID_1774"> Rede, und wie sehr man auch immer die Salbung des theologischen Wesens ver¬<lb/>
meiden möge, so ist es doch für Männer, bei denen der Verstand vorwiegt, schwer,<lb/>
sich gegenseitig erbauen zu wollen, eine Form der Andacht aufzufinden, die, ohne<lb/>
einen bestimmten, praktischen Zweck zu haben, und ohne auf das eigentlich eben so<lb/>
praktische, wenn auch phantastische Ziel des himmlischen Reichs zu blicken, dennoch<lb/>
das Gemüth dauernd beschäftigen und befriedigen soll. Zu einer Religionsgesell¬<lb/>
schaft fehlt ihr der religiöse Inhalt, zu einer andern der bestimmte Zweck; sie wird,<lb/>
wenn sie consequent fortgeht, immer mehr uach eiuer Ressource zu gesellige», be¬<lb/>
lehrenden nud unterhaltenden Zwecken, als «ach etwas anderen aussehen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1776"> Wie dem auch sei, Niemand wird Wisliccuus deu Ruhm streitig macheu, ein<lb/>
ehrlicher, tapferer und gewissenhafter Mann zu sein. Für seine Ueberzeugung nicht<lb/>
nur seine eigne Existenz, sondern auch die einer zahlreichen Familie auf's Spiel<lb/>
zu setzen; in einer Zeit der Lüge und Halbheit den Muth zu haben, rücksichtlos<lb/>
und ohne Bedenken nur dem eignen Gewissen und der eiguen Vernunft zu folgen<lb/>
&#x2014; wer darüber spotten kann, der gesellt sich zu den unsittlichen, ehr- nud gesin-<lb/>
nungslosen Sophisten, die der Reaction dienen, und von ihr eben so verachtet<lb/>
werden, wie von ihren Gegnern.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1777"> Die neulich erfolgte Suspension Uhlichs und die daraus unbedingt hervor¬<lb/>
gehende Ueberzeugung von der Tendenz des Kirchenregiments, den Rationalismus<lb/>
geradezu vou der Kirche auszuschließen, hat denn zur Bildung einer größeren<lb/>
freien, aber christlichen Gemeinde geführt, welche das neue NeligiouScdict anerkennt,<lb/>
und sich, wenn auch mit dem Vorbehalt der Appellation an die evangelische Kirche<lb/>
überhaupt, wenigstens vorläufig als Secte constituirt, und die in jenem Edict den<lb/>
Secten zugesicherte Religionsfreiheit beansprucht.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1778"> Sie ging hervor aus einem Vertrag der deutschkatholischen Gemeinde und<lb/>
der Lichtfreunde; die Anhänger des Wislicenus schlössen sich ans, weil sie sich<lb/>
nicht weiter mit Formen abgeben wollten, deren UnHaltbarkeit sie eingesehen zu<lb/>
haben glaubten. Sie haben Recht daran gethan, denn ans jenem halben Wesen<lb/>
wird nichts hervorgehen. Der Buchhändler Schwetschke, das eigentliche Haupt<lb/>
dieser als Secte constituirten Rationalisten, ist ein ehremverther Mann, aber<lb/>
nichts weniger als ein Prophet. Von bedeutenderen, namentlich wissenschaftlich<lb/>
gebildeten Männern hat sich, so viel mir bekannt ist, niemand der neuen abstract<lb/>
christlichen Kirche angeschlossen. Man kann dagegen nichts einwenden, denn so<lb/>
lauge mau in der alten, legitimen, positiven Kirche bleibt, fühlt man ihren Druck<lb/>
nicht &#x2014; höchstens in äußeren Formen, die mehr dem Staat, als der Religion<lb/>
angehören; ans der Kirche darf nicht austreten, wer nicht hineingeht; wenn man<lb/>
dagegen sich der neuen Verbindung anschließt, macht mau sich solidarisch für Al¬<lb/>
les verantwortlich, was darin gelehrt und angestrebt wird.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1779" next="#ID_1780"> Religiöse Productivität darf man hier also nicht erwarten. Eine andere<lb/>
Frage wäre es, ob diese kirchliche» Spaltungen nicht politisch förderlich sein könn-</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 07 *</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0527] Rede, und wie sehr man auch immer die Salbung des theologischen Wesens ver¬ meiden möge, so ist es doch für Männer, bei denen der Verstand vorwiegt, schwer, sich gegenseitig erbauen zu wollen, eine Form der Andacht aufzufinden, die, ohne einen bestimmten, praktischen Zweck zu haben, und ohne auf das eigentlich eben so praktische, wenn auch phantastische Ziel des himmlischen Reichs zu blicken, dennoch das Gemüth dauernd beschäftigen und befriedigen soll. Zu einer Religionsgesell¬ schaft fehlt ihr der religiöse Inhalt, zu einer andern der bestimmte Zweck; sie wird, wenn sie consequent fortgeht, immer mehr uach eiuer Ressource zu gesellige», be¬ lehrenden nud unterhaltenden Zwecken, als «ach etwas anderen aussehen. Wie dem auch sei, Niemand wird Wisliccuus deu Ruhm streitig macheu, ein ehrlicher, tapferer und gewissenhafter Mann zu sein. Für seine Ueberzeugung nicht nur seine eigne Existenz, sondern auch die einer zahlreichen Familie auf's Spiel zu setzen; in einer Zeit der Lüge und Halbheit den Muth zu haben, rücksichtlos und ohne Bedenken nur dem eignen Gewissen und der eiguen Vernunft zu folgen — wer darüber spotten kann, der gesellt sich zu den unsittlichen, ehr- nud gesin- nungslosen Sophisten, die der Reaction dienen, und von ihr eben so verachtet werden, wie von ihren Gegnern. Die neulich erfolgte Suspension Uhlichs und die daraus unbedingt hervor¬ gehende Ueberzeugung von der Tendenz des Kirchenregiments, den Rationalismus geradezu vou der Kirche auszuschließen, hat denn zur Bildung einer größeren freien, aber christlichen Gemeinde geführt, welche das neue NeligiouScdict anerkennt, und sich, wenn auch mit dem Vorbehalt der Appellation an die evangelische Kirche überhaupt, wenigstens vorläufig als Secte constituirt, und die in jenem Edict den Secten zugesicherte Religionsfreiheit beansprucht. Sie ging hervor aus einem Vertrag der deutschkatholischen Gemeinde und der Lichtfreunde; die Anhänger des Wislicenus schlössen sich ans, weil sie sich nicht weiter mit Formen abgeben wollten, deren UnHaltbarkeit sie eingesehen zu haben glaubten. Sie haben Recht daran gethan, denn ans jenem halben Wesen wird nichts hervorgehen. Der Buchhändler Schwetschke, das eigentliche Haupt dieser als Secte constituirten Rationalisten, ist ein ehremverther Mann, aber nichts weniger als ein Prophet. Von bedeutenderen, namentlich wissenschaftlich gebildeten Männern hat sich, so viel mir bekannt ist, niemand der neuen abstract christlichen Kirche angeschlossen. Man kann dagegen nichts einwenden, denn so lauge mau in der alten, legitimen, positiven Kirche bleibt, fühlt man ihren Druck nicht — höchstens in äußeren Formen, die mehr dem Staat, als der Religion angehören; ans der Kirche darf nicht austreten, wer nicht hineingeht; wenn man dagegen sich der neuen Verbindung anschließt, macht mau sich solidarisch für Al¬ les verantwortlich, was darin gelehrt und angestrebt wird. Religiöse Productivität darf man hier also nicht erwarten. Eine andere Frage wäre es, ob diese kirchliche» Spaltungen nicht politisch förderlich sein könn- 07 *

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/527
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/527>, abgerufen am 24.08.2024.