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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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sten und bevölkerten Theil mittels einer neuen gewaltigen Verkehrslinie ver¬
dürbe", die "och außerdem vom adriatischen Meere bis an die Nordsee sich
ununterbrochen fortsetzt, lind wenn das ganze Netz vollendet sein wird, wenn
die Lokomative täglich Hunderttausende, die ohne sie sich niemals nahe gekom¬
men wären, zusammenbringt und jene zu Nachbaren macht, die sonst in ent¬
fernten Länder" wohnten, so werden nicht allein die Interessen, sondern auch
geistige Agentien die Einheit der Völker vollenden helfen, die das wunderbare
Netz umspannt. Hier hat also die Regierung, obschon sie sich noch immer scheut
das Kaiserreich in allen Theilen organisch zu konstituiren -- dennoch unstreitig
eine der wichtigsten Arterien des künftigen Organismus geschaffen.

Außer dieser bedeutsamen Thatsache liegen aber noch andere nicht weniger
beachtenswerthe Erscheinungen vor, an welche sich die nachstehenden Betrachtungen
knüpfen.

Wie so oft dasjenige, was vom Ziele abzuführen scheint, dahin leitet, so kann
auch das reger gewordene politische Leben in den Provinzen, das Hervorsuchen
von Partikularrechten und das Streben durch geschichtliche Erinnerungen, Sprache
und Sitte, die sogenannten nationalen Gesinnungen zu heben, statt zur Befesti¬
gung und Wiedererrichtung der Scheidelinien gerade zum Gegentheil, nämlich zu
ihrer völligen Hinwegräumung führen. Denn es wird sich in vielen Fällen her¬
ausstellen, daß die gewünschte Sonderung theils ohne wesentlichen Vortheil, theils
unausführbar sei, weil dasjenige, was sich einmal naturgemäß verbunden hat, nicht
ohne gewaltsame Losreißung abzulösen ist. Nicht minder wird eine allgemeine und
nähere Kenntniß der mit den Nebenländern so vielfach verflochtenen Partikular-
Landesgcschichte am besten geeignet sein, viele Vorurtheile und Illusionen zu zer¬
stören und einem vaterländischen Geiste Nahrung zu geben, der über die Grenzen
der Provinzen hinausreicht. Endlich läßt sich zwar uicht leugnen, daß Sprache
und Literatur überaus mächtige Hebel sind, die Traditionen früherer Getrenntheit
aufrecht zu erhalten; doch wenn, wie dies in Oesterreich geschieht, solchen Bestre¬
bungen kein Hinderniß in den Weg gelegt wird, so entspringt daraus das Gute,
daß die ungeheueren Schwierigkeiten sich in das rechte Licht stellen, selbst nur äu¬
ßerlich eine in ihrer Fortbildung zurückgebliebene Sprache nach Erforderniß zu
erweitern und brauchbar zu machen, geschweige denn großartige Monumente
einer neuen Literatur zu schaffen. Damit aber ist der Weg angebahnt zu ei¬
nem tieferen Eindringen und Erkennen der Gesetze und Bedingungen, unter
welchen überhaupt Volksthümlichkeit und Nationalität sich entwickeln und ent¬
falten können, so wie jener, durch welche sie verkümmern muß und endlich ab¬
stirbt, oder aber in Verbindung mit andern eine neue erzeugen hilft. Man wird
einsehen lernen, daß, um eine Seele zu bewohnen, vor allem Andern der Körper
vorhanden sein müsse, welche die Völkerschaften nur durch ihre kräftige politische
Eonstituiruug sowohl nach Innen als Außen erlangen. Man wird nicht minder


sten und bevölkerten Theil mittels einer neuen gewaltigen Verkehrslinie ver¬
dürbe», die »och außerdem vom adriatischen Meere bis an die Nordsee sich
ununterbrochen fortsetzt, lind wenn das ganze Netz vollendet sein wird, wenn
die Lokomative täglich Hunderttausende, die ohne sie sich niemals nahe gekom¬
men wären, zusammenbringt und jene zu Nachbaren macht, die sonst in ent¬
fernten Länder» wohnten, so werden nicht allein die Interessen, sondern auch
geistige Agentien die Einheit der Völker vollenden helfen, die das wunderbare
Netz umspannt. Hier hat also die Regierung, obschon sie sich noch immer scheut
das Kaiserreich in allen Theilen organisch zu konstituiren — dennoch unstreitig
eine der wichtigsten Arterien des künftigen Organismus geschaffen.

Außer dieser bedeutsamen Thatsache liegen aber noch andere nicht weniger
beachtenswerthe Erscheinungen vor, an welche sich die nachstehenden Betrachtungen
knüpfen.

Wie so oft dasjenige, was vom Ziele abzuführen scheint, dahin leitet, so kann
auch das reger gewordene politische Leben in den Provinzen, das Hervorsuchen
von Partikularrechten und das Streben durch geschichtliche Erinnerungen, Sprache
und Sitte, die sogenannten nationalen Gesinnungen zu heben, statt zur Befesti¬
gung und Wiedererrichtung der Scheidelinien gerade zum Gegentheil, nämlich zu
ihrer völligen Hinwegräumung führen. Denn es wird sich in vielen Fällen her¬
ausstellen, daß die gewünschte Sonderung theils ohne wesentlichen Vortheil, theils
unausführbar sei, weil dasjenige, was sich einmal naturgemäß verbunden hat, nicht
ohne gewaltsame Losreißung abzulösen ist. Nicht minder wird eine allgemeine und
nähere Kenntniß der mit den Nebenländern so vielfach verflochtenen Partikular-
Landesgcschichte am besten geeignet sein, viele Vorurtheile und Illusionen zu zer¬
stören und einem vaterländischen Geiste Nahrung zu geben, der über die Grenzen
der Provinzen hinausreicht. Endlich läßt sich zwar uicht leugnen, daß Sprache
und Literatur überaus mächtige Hebel sind, die Traditionen früherer Getrenntheit
aufrecht zu erhalten; doch wenn, wie dies in Oesterreich geschieht, solchen Bestre¬
bungen kein Hinderniß in den Weg gelegt wird, so entspringt daraus das Gute,
daß die ungeheueren Schwierigkeiten sich in das rechte Licht stellen, selbst nur äu¬
ßerlich eine in ihrer Fortbildung zurückgebliebene Sprache nach Erforderniß zu
erweitern und brauchbar zu machen, geschweige denn großartige Monumente
einer neuen Literatur zu schaffen. Damit aber ist der Weg angebahnt zu ei¬
nem tieferen Eindringen und Erkennen der Gesetze und Bedingungen, unter
welchen überhaupt Volksthümlichkeit und Nationalität sich entwickeln und ent¬
falten können, so wie jener, durch welche sie verkümmern muß und endlich ab¬
stirbt, oder aber in Verbindung mit andern eine neue erzeugen hilft. Man wird
einsehen lernen, daß, um eine Seele zu bewohnen, vor allem Andern der Körper
vorhanden sein müsse, welche die Völkerschaften nur durch ihre kräftige politische
Eonstituiruug sowohl nach Innen als Außen erlangen. Man wird nicht minder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/507>, abgerufen am 22.07.2024.