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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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kennen wahrlich, wenn das Bewußtsein von dem Elend dieses Jammerthals,
wie die Orthodoxen meinen, wenn die Noth des Herzens zum Herrn führt, so
wäre es wohl leicht erklärlich, warum Halle seit alter Zeit der Sitz der religiösen
Gährung war. Ich selber habe Stoßseufzer zum Höchsten gesandt, wenn ich in
einer der neuen Droschken von dem Dämon des Straßenpflasters himmclauf,
wolkenan geschleudert wurde, und nur die Betrachtung hat mich getröstet, daß
kein Raum zum Umwerfen war, wir hätten denn auf die Häuser fallen müssen.

Und doch ist dieses Halle, wenn man sich erst an den Broihan, die dunkeln
Kneipen und das Straßenpflaster gewöhnt hat, ein gemüthliches Städtchen. Mit .
welchem Behagen füllt man sich den Leib mit Sol-Eiern! wie paradiesisch kommt
man sich in einer dieser kleinen Stübchen in der Vorstadt Glaucha vor, das als
einziges Ameublement ein Bett und einen Stuhl führt. Wie herzig tanzt sich's im
Mondschein mit den traiter Dirnen in Dölau, wie warm hält selbst die Kneip-
athmosphäre, wenn die Nase sich nur erst ein wenig der Localität anbeaucmt hat.
Ja es ist selbst mit der höhern Poesie des Studentenlebens noch nicht so ganz zu
Ende. Wenn man in der Abenddämmerung auf der Saale fährt, wenn der blaue
Dunst aus den Salinen durch deu Nimbus der Ferne eine ossianische Färbung
gewinnt und sich ätherisch ums Herz legt, wie Novalis blaue Blumen, wenn dann
der alte Giebichenstein, dessen isolirter Fels wie eine Ruine des Burschen.
Wesens in die Sandwüste der Philisterwelt hereinragt, plötzlich mit seinen fttedcr-
umkränzten Höhen aus einer Ecke hervortritt, wie stimmt sich dann das Herz so
freudig, wenn man anstimmen kann: "Borussia ist mein Vaterland! ich Haltes lieb
und werth!" Oder ich will es nur ehrlich gestehn, wir sangen auch: "Kannibalia
ist mein Vaterland!" denn wir waren bei allem Patriotismus rechtschaffene Kos¬
mopoliten, und uufte Ahnen mögen sich im Grabe umgewendet habe", wenn sie
ans unsre Thaten herabblickten. So trieben wir Possen mit der Zeit und die
Geister der Weisen saßen in den Wolken und spotteten unsrer. Und dann kommt
Pfingsten, das liebliche Fest, und Burschen und Kameele ziehen auf eine Spritz¬
fahrt; es geht nach der alten, waldumkränzten Rudelsbnrg, und Hallenser, Jenen--
ser, Leipziger, ja Berliner lassen zu Samiels Walthier einen Canon aufsteigen,
der die lieben Englein im Himmel aus ihrer Andacht aufstören könnte. Wer
kennt die Völker, nennt die Namen, die stattlich hier zusammen kamen -- Thürin¬
ger, Märker, Vandalen, Markomanen, Borussen -- soll das alles in der schwäch¬
lichen Philantropie unsers tintenklecksenden Säculums untergehn?

Aber was hilft alle Rührung! Die Welt und die Nothwendigkeit mit ihren
Balkennägeln behauptet ihr Recht. Mit einem gelinden Stoßseufzer wollen wir
die Harfe an die Weiden hängen, unseren Frack anziehen -- zwar ist er in Halle
selten -- und uns in die Geschichte der Philisterwelt vertiefen. Die Pedelle treiben
die Unschuld aus ihren verborgensten Schlupfwinkeln, Pernice's Ohr ist lang,
wenn auch sein Bäuchlein rund ist, und sein Arm reicht weit, man kann nicht


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kennen wahrlich, wenn das Bewußtsein von dem Elend dieses Jammerthals,
wie die Orthodoxen meinen, wenn die Noth des Herzens zum Herrn führt, so
wäre es wohl leicht erklärlich, warum Halle seit alter Zeit der Sitz der religiösen
Gährung war. Ich selber habe Stoßseufzer zum Höchsten gesandt, wenn ich in
einer der neuen Droschken von dem Dämon des Straßenpflasters himmclauf,
wolkenan geschleudert wurde, und nur die Betrachtung hat mich getröstet, daß
kein Raum zum Umwerfen war, wir hätten denn auf die Häuser fallen müssen.

Und doch ist dieses Halle, wenn man sich erst an den Broihan, die dunkeln
Kneipen und das Straßenpflaster gewöhnt hat, ein gemüthliches Städtchen. Mit .
welchem Behagen füllt man sich den Leib mit Sol-Eiern! wie paradiesisch kommt
man sich in einer dieser kleinen Stübchen in der Vorstadt Glaucha vor, das als
einziges Ameublement ein Bett und einen Stuhl führt. Wie herzig tanzt sich's im
Mondschein mit den traiter Dirnen in Dölau, wie warm hält selbst die Kneip-
athmosphäre, wenn die Nase sich nur erst ein wenig der Localität anbeaucmt hat.
Ja es ist selbst mit der höhern Poesie des Studentenlebens noch nicht so ganz zu
Ende. Wenn man in der Abenddämmerung auf der Saale fährt, wenn der blaue
Dunst aus den Salinen durch deu Nimbus der Ferne eine ossianische Färbung
gewinnt und sich ätherisch ums Herz legt, wie Novalis blaue Blumen, wenn dann
der alte Giebichenstein, dessen isolirter Fels wie eine Ruine des Burschen.
Wesens in die Sandwüste der Philisterwelt hereinragt, plötzlich mit seinen fttedcr-
umkränzten Höhen aus einer Ecke hervortritt, wie stimmt sich dann das Herz so
freudig, wenn man anstimmen kann: „Borussia ist mein Vaterland! ich Haltes lieb
und werth!" Oder ich will es nur ehrlich gestehn, wir sangen auch: „Kannibalia
ist mein Vaterland!" denn wir waren bei allem Patriotismus rechtschaffene Kos¬
mopoliten, und uufte Ahnen mögen sich im Grabe umgewendet habe», wenn sie
ans unsre Thaten herabblickten. So trieben wir Possen mit der Zeit und die
Geister der Weisen saßen in den Wolken und spotteten unsrer. Und dann kommt
Pfingsten, das liebliche Fest, und Burschen und Kameele ziehen auf eine Spritz¬
fahrt; es geht nach der alten, waldumkränzten Rudelsbnrg, und Hallenser, Jenen--
ser, Leipziger, ja Berliner lassen zu Samiels Walthier einen Canon aufsteigen,
der die lieben Englein im Himmel aus ihrer Andacht aufstören könnte. Wer
kennt die Völker, nennt die Namen, die stattlich hier zusammen kamen — Thürin¬
ger, Märker, Vandalen, Markomanen, Borussen — soll das alles in der schwäch¬
lichen Philantropie unsers tintenklecksenden Säculums untergehn?

Aber was hilft alle Rührung! Die Welt und die Nothwendigkeit mit ihren
Balkennägeln behauptet ihr Recht. Mit einem gelinden Stoßseufzer wollen wir
die Harfe an die Weiden hängen, unseren Frack anziehen — zwar ist er in Halle
selten — und uns in die Geschichte der Philisterwelt vertiefen. Die Pedelle treiben
die Unschuld aus ihren verborgensten Schlupfwinkeln, Pernice's Ohr ist lang,
wenn auch sein Bäuchlein rund ist, und sein Arm reicht weit, man kann nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/463>, abgerufen am 24.08.2024.