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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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Es ist eine wahre Erholung, wenn man zu dem heitersten und abgerundetsten Werk
übergeht, welches diese Ansicht von der Verkehrtheit des Weltlaufs, der Glaube an das
Recht des Stärkern und schlauem hervorgebracht hat, dem Reinecke Fuchs. Aber hier
wird die kunstmäßigere Form, in der Goethe uns die Sage überliefert hat, auch wohl
die populärere bleiben. --- Nichts desto weniger ist der Fleiß, welchen der verdienstvolle
Simrock auf diese Sammlungen verwendet hat, dankbar anzuerkennen und vom Stand¬
I. Z. punkt der Culturgeschichte sind diese Volksbücher vom höchsten Werth.


III.
Der Prätendent von Kücken.

Fünf Jahre lang -- von 1835 bis etwa 1840 -- war Herr Kücken das ont-me,
clieri der singenden Berliner Dilcttantenwelt, der liedcrschmachtenden Kaufmanns-
tochter, Lieutenants, Kammergerichtsrcfcrendarien u. s. w. Es gelang ihm, mit sei¬
nem Dilcttantentalcnt den ihm weit überlegenen, frühverstorbenen Curschmann
ans der vaxue zu bringen und selbst i" die Mode zu kommen. Er war das all¬
gemeine beliebte Steckenpfcrdchcn, daß in allen Gefnigs-, Thee- und Liederkränzchen
der preußischen Residenz geritten wurde. Seine niedlichen Liederchen "gingen un¬
geheuer," und die Musikhändlcr rissen sich um die Manuscripte des liebenswürdigen
Dilettanten. Da ließ er es sich einfallen, eine Oper zu schreiben, d. h. vorerst eine
Operette, ein Liederspiel in einem Acte: "Die Flucht nach der Schweiz." Er arbei¬
tete über Jahr und Tag, und zwar unablässig. Seine begeistertsten Freunde wur¬
den etwas stnjzig über diese Langsamkeit und Zähigkeit des Talentes, das anschei¬
nend so leicht und allerliebst componirte; sie wußten nicht, daß der gute Kücken
seine niedlichen Nippsachen mit großer Mühe und saurem Schweiß produzirte, Takt für
Takt mühselig am Clavier zusammensuchte. Daß sie nachher, wenn sie endlich fertig,
doch glatt und ziemlich elegant klangen, war merkwürdig genug und zeugte von einem
bedeutenden technischen Talent für Mosaikarbeit. Die "Flucht nach der Schweiz" kam auf
die Bühne zur Zeit, als Herr Kücken den Gipfel seiner Berliner Berühmtheit erstiegen;
er war die erste Person in allen Ressourcen und Soirvcn und einer der tapfersten und
beliebtesten Tänzer in allen tuo" <j<in8ant," der Residenz. Die"Operette gefiel, wurde
gedruckt, aber -- "sie ging nicht!" sagte der Verleger. Nun führte der beinahe
mit der Hand einer jungen Dame von Geburt, Bildung und Distinction beglückte
Berliner Lieblingscomponist, seine Operette ganz allein aus, d. h. er executirte selbst
eine "Flucht nach der Schweiz." Avr dort ging er nach Paris und begann vor
etwa vier Jahren die Komposition des "Prätendenten." An jedem der drei Akte
schrieb er ein Jahr, denn die verschiedenen Stimmungen der Clarinetten, Hörner
Trompeten, können den allerbeliebtesten Modelicdercomponisteii ganz verteufelt geniren:
Bässe und gar Mittelstimmen im Vocalen Ensemblcscch wollen auch gefunden sein. End¬
lich war der große Prätendent fertig, und Stuttgart im Schwabenland wurde für die
Prätension der "ersten Aufführung" erkoren. Einige Lobposauncustöße erklangen in
einigen Zeitungen; ein Berliner Musikalienhändler vo Aro" spitzte sich ans die unsterb¬
liche Partitur, und sorgte, daß die Stuttgarter Lobposauuen auch in Berliner Blättern
ihr Echo hallten. Aber wie dieser merkwürdige Verleger in Allem Glück hat, so hatte er
auch diesmal wieder das fabelhafte Glück, daß ihm ein anderer Verleger die Partitur
wegschnappte und er dadurch ein neidenSwerthcs Geschäft machte. Am 19. Novbr. prä-
teudirte denn unser dreiaktige Prätendent auch auf der zweiten Opernbühne zu Berlin;


Es ist eine wahre Erholung, wenn man zu dem heitersten und abgerundetsten Werk
übergeht, welches diese Ansicht von der Verkehrtheit des Weltlaufs, der Glaube an das
Recht des Stärkern und schlauem hervorgebracht hat, dem Reinecke Fuchs. Aber hier
wird die kunstmäßigere Form, in der Goethe uns die Sage überliefert hat, auch wohl
die populärere bleiben. -— Nichts desto weniger ist der Fleiß, welchen der verdienstvolle
Simrock auf diese Sammlungen verwendet hat, dankbar anzuerkennen und vom Stand¬
I. Z. punkt der Culturgeschichte sind diese Volksbücher vom höchsten Werth.


III.
Der Prätendent von Kücken.

Fünf Jahre lang — von 1835 bis etwa 1840 — war Herr Kücken das ont-me,
clieri der singenden Berliner Dilcttantenwelt, der liedcrschmachtenden Kaufmanns-
tochter, Lieutenants, Kammergerichtsrcfcrendarien u. s. w. Es gelang ihm, mit sei¬
nem Dilcttantentalcnt den ihm weit überlegenen, frühverstorbenen Curschmann
ans der vaxue zu bringen und selbst i» die Mode zu kommen. Er war das all¬
gemeine beliebte Steckenpfcrdchcn, daß in allen Gefnigs-, Thee- und Liederkränzchen
der preußischen Residenz geritten wurde. Seine niedlichen Liederchen „gingen un¬
geheuer," und die Musikhändlcr rissen sich um die Manuscripte des liebenswürdigen
Dilettanten. Da ließ er es sich einfallen, eine Oper zu schreiben, d. h. vorerst eine
Operette, ein Liederspiel in einem Acte: „Die Flucht nach der Schweiz." Er arbei¬
tete über Jahr und Tag, und zwar unablässig. Seine begeistertsten Freunde wur¬
den etwas stnjzig über diese Langsamkeit und Zähigkeit des Talentes, das anschei¬
nend so leicht und allerliebst componirte; sie wußten nicht, daß der gute Kücken
seine niedlichen Nippsachen mit großer Mühe und saurem Schweiß produzirte, Takt für
Takt mühselig am Clavier zusammensuchte. Daß sie nachher, wenn sie endlich fertig,
doch glatt und ziemlich elegant klangen, war merkwürdig genug und zeugte von einem
bedeutenden technischen Talent für Mosaikarbeit. Die „Flucht nach der Schweiz" kam auf
die Bühne zur Zeit, als Herr Kücken den Gipfel seiner Berliner Berühmtheit erstiegen;
er war die erste Person in allen Ressourcen und Soirvcn und einer der tapfersten und
beliebtesten Tänzer in allen tuo« <j<in8ant,« der Residenz. Die«Operette gefiel, wurde
gedruckt, aber — „sie ging nicht!" sagte der Verleger. Nun führte der beinahe
mit der Hand einer jungen Dame von Geburt, Bildung und Distinction beglückte
Berliner Lieblingscomponist, seine Operette ganz allein aus, d. h. er executirte selbst
eine „Flucht nach der Schweiz." Avr dort ging er nach Paris und begann vor
etwa vier Jahren die Komposition des „Prätendenten." An jedem der drei Akte
schrieb er ein Jahr, denn die verschiedenen Stimmungen der Clarinetten, Hörner
Trompeten, können den allerbeliebtesten Modelicdercomponisteii ganz verteufelt geniren:
Bässe und gar Mittelstimmen im Vocalen Ensemblcscch wollen auch gefunden sein. End¬
lich war der große Prätendent fertig, und Stuttgart im Schwabenland wurde für die
Prätension der „ersten Aufführung" erkoren. Einige Lobposauncustöße erklangen in
einigen Zeitungen; ein Berliner Musikalienhändler vo Aro« spitzte sich ans die unsterb¬
liche Partitur, und sorgte, daß die Stuttgarter Lobposauuen auch in Berliner Blättern
ihr Echo hallten. Aber wie dieser merkwürdige Verleger in Allem Glück hat, so hatte er
auch diesmal wieder das fabelhafte Glück, daß ihm ein anderer Verleger die Partitur
wegschnappte und er dadurch ein neidenSwerthcs Geschäft machte. Am 19. Novbr. prä-
teudirte denn unser dreiaktige Prätendent auch auf der zweiten Opernbühne zu Berlin;


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[0404] Es ist eine wahre Erholung, wenn man zu dem heitersten und abgerundetsten Werk übergeht, welches diese Ansicht von der Verkehrtheit des Weltlaufs, der Glaube an das Recht des Stärkern und schlauem hervorgebracht hat, dem Reinecke Fuchs. Aber hier wird die kunstmäßigere Form, in der Goethe uns die Sage überliefert hat, auch wohl die populärere bleiben. -— Nichts desto weniger ist der Fleiß, welchen der verdienstvolle Simrock auf diese Sammlungen verwendet hat, dankbar anzuerkennen und vom Stand¬ I. Z. punkt der Culturgeschichte sind diese Volksbücher vom höchsten Werth. III. Der Prätendent von Kücken. Fünf Jahre lang — von 1835 bis etwa 1840 — war Herr Kücken das ont-me, clieri der singenden Berliner Dilcttantenwelt, der liedcrschmachtenden Kaufmanns- tochter, Lieutenants, Kammergerichtsrcfcrendarien u. s. w. Es gelang ihm, mit sei¬ nem Dilcttantentalcnt den ihm weit überlegenen, frühverstorbenen Curschmann ans der vaxue zu bringen und selbst i» die Mode zu kommen. Er war das all¬ gemeine beliebte Steckenpfcrdchcn, daß in allen Gefnigs-, Thee- und Liederkränzchen der preußischen Residenz geritten wurde. Seine niedlichen Liederchen „gingen un¬ geheuer," und die Musikhändlcr rissen sich um die Manuscripte des liebenswürdigen Dilettanten. Da ließ er es sich einfallen, eine Oper zu schreiben, d. h. vorerst eine Operette, ein Liederspiel in einem Acte: „Die Flucht nach der Schweiz." Er arbei¬ tete über Jahr und Tag, und zwar unablässig. Seine begeistertsten Freunde wur¬ den etwas stnjzig über diese Langsamkeit und Zähigkeit des Talentes, das anschei¬ nend so leicht und allerliebst componirte; sie wußten nicht, daß der gute Kücken seine niedlichen Nippsachen mit großer Mühe und saurem Schweiß produzirte, Takt für Takt mühselig am Clavier zusammensuchte. Daß sie nachher, wenn sie endlich fertig, doch glatt und ziemlich elegant klangen, war merkwürdig genug und zeugte von einem bedeutenden technischen Talent für Mosaikarbeit. Die „Flucht nach der Schweiz" kam auf die Bühne zur Zeit, als Herr Kücken den Gipfel seiner Berliner Berühmtheit erstiegen; er war die erste Person in allen Ressourcen und Soirvcn und einer der tapfersten und beliebtesten Tänzer in allen tuo« <j<in8ant,« der Residenz. Die«Operette gefiel, wurde gedruckt, aber — „sie ging nicht!" sagte der Verleger. Nun führte der beinahe mit der Hand einer jungen Dame von Geburt, Bildung und Distinction beglückte Berliner Lieblingscomponist, seine Operette ganz allein aus, d. h. er executirte selbst eine „Flucht nach der Schweiz." Avr dort ging er nach Paris und begann vor etwa vier Jahren die Komposition des „Prätendenten." An jedem der drei Akte schrieb er ein Jahr, denn die verschiedenen Stimmungen der Clarinetten, Hörner Trompeten, können den allerbeliebtesten Modelicdercomponisteii ganz verteufelt geniren: Bässe und gar Mittelstimmen im Vocalen Ensemblcscch wollen auch gefunden sein. End¬ lich war der große Prätendent fertig, und Stuttgart im Schwabenland wurde für die Prätension der „ersten Aufführung" erkoren. Einige Lobposauncustöße erklangen in einigen Zeitungen; ein Berliner Musikalienhändler vo Aro« spitzte sich ans die unsterb¬ liche Partitur, und sorgte, daß die Stuttgarter Lobposauuen auch in Berliner Blättern ihr Echo hallten. Aber wie dieser merkwürdige Verleger in Allem Glück hat, so hatte er auch diesmal wieder das fabelhafte Glück, daß ihm ein anderer Verleger die Partitur wegschnappte und er dadurch ein neidenSwerthcs Geschäft machte. Am 19. Novbr. prä- teudirte denn unser dreiaktige Prätendent auch auf der zweiten Opernbühne zu Berlin;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/404>, abgerufen am 12.12.2024.