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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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die gefügige Lehre Schleiermacher's, von der er ursprünglich ausging. Was ihn
aber, außer der Bewunderung, die er vor der kühnen, titanischen Universalität des
ganzen Gebäudes in seinem Verstände hegen mußte, vorzugsweise zu demselben
hingezogen haben wird, war die große Liebe, mit welcher dasselbe auf die Reali¬
tät in all' ihren Formen einging, der Scharfsinn, mit dem es überall das Posi¬
tive herausfand, und andererseits wieder die liberale Weise, in der es sich das¬
selbe anbequemte -- die Schule gibt nun dem Geiste einen Ruhepunkt, es setzt
die Principiell fest, und verstattet nun eine freie, liebevolle Beschäftigung mit dem
Concreten und Einzelnen, Rosenkranz hat zur principiellen Entwickelung der Hegel'-
schen Philosophie nichts Wesentliches beigetragen, aber er ist derselben mit auf¬
merksamer Theilnahme gefolgt, und hat selbst in den extremen Consequenzen, die eben
ihrer negativen, rein kritischen Richtung wegen ihm unbequem sein müssen, die
relative Berechtigung herausgefühlt. Er hat in seineu zahlreiche" Schriften durch
versöhnliche Formen, dnrch eine gelinde Ironie, die sich mit ernsthaftem Interesse
sehr wohl verträgt, wesentlich dazu beigetragen, von dem Ringen nach "dein Cen¬
trum der Speculation" die Gehässigkeit und Erbitterung fern zu halten. Ein ei¬
gentlich gemüthliches Interesse nimmt er aber mehr all der Literaturgeschichte über¬
haupt, für die er einen seinen Geschmack, ein durch die vielseitigste Bildung unter¬
stütztes Verständniß mitbringt, bei deren Beurtheilung ihm aber die eigentlich ge¬
lehrte Kenntniß des historischen Details abgeht, ein Mangel, der sich durch eine
allgemeine philosophische Uebersicht der Geschichte kaum ersetzen laß.t. In seiner
Geschichte der Literatur des Mittelalters spielen daher in reizender Verwirrung
zwölf Jahrhunderte in einander, und in seinem neuesten Werk, den Vorlesungen
über Güthe, wird mit einer Entrüstung, die wohl bei einem Aesthetiker, aber nicht
bei einem Historiker verzeihlich ist, gegen die namentlich von Gervinus vertretene
Ansicht geeifert, daß Goethe der eigentlich lebendige geschichtliche Sinn abgegangen
sei: eine Wahrheit, welche die wirklich historische Kritik Goethe garnicht zum Vor¬
wurf machen wird, indem sie ihn als das ideale Bild einer geschichtlich nothwen¬
digen Zeitrichtlmg darstellt, die aber dnrch das Bemühen, in Goethe den absoluten,
alle Vollkommenheiten des Gedankens und des Gefühls in sich concentrirendeu
Dichter zu feinen, mir durch symbolische und allegorische Interpretationen verdeckt
werden kann. Wenn der Dichter bei dem wehvollen Tode eines schuldigen, ent¬
ehrten und zum Wahnsinn getriebenen Wesens eine Stimme von Oben ausrufen
läßt: Sie ist gerettet! so läßt sich nichts dagegen sagen, aber der Philosoph sollte
sich besinnen, ehe er diesem poetischen Einfall den Stempel einer absoluten sittli¬
chen Wahrheit aufprägt.

Die eigentlich pädagogische Wirksamkeit Rosenkranz's entspricht seiner litera¬
rischen , zu der wir auch noch die Königsbergs Lokalschilderungeu rechnen müssen,
weil sie seinem realistischen Sinn an einem rein empirischen Gegenstand bestäti¬
gen. Er imponirt schon durch einen vollständig freien Vortrag -- eine extreme


die gefügige Lehre Schleiermacher's, von der er ursprünglich ausging. Was ihn
aber, außer der Bewunderung, die er vor der kühnen, titanischen Universalität des
ganzen Gebäudes in seinem Verstände hegen mußte, vorzugsweise zu demselben
hingezogen haben wird, war die große Liebe, mit welcher dasselbe auf die Reali¬
tät in all' ihren Formen einging, der Scharfsinn, mit dem es überall das Posi¬
tive herausfand, und andererseits wieder die liberale Weise, in der es sich das¬
selbe anbequemte — die Schule gibt nun dem Geiste einen Ruhepunkt, es setzt
die Principiell fest, und verstattet nun eine freie, liebevolle Beschäftigung mit dem
Concreten und Einzelnen, Rosenkranz hat zur principiellen Entwickelung der Hegel'-
schen Philosophie nichts Wesentliches beigetragen, aber er ist derselben mit auf¬
merksamer Theilnahme gefolgt, und hat selbst in den extremen Consequenzen, die eben
ihrer negativen, rein kritischen Richtung wegen ihm unbequem sein müssen, die
relative Berechtigung herausgefühlt. Er hat in seineu zahlreiche» Schriften durch
versöhnliche Formen, dnrch eine gelinde Ironie, die sich mit ernsthaftem Interesse
sehr wohl verträgt, wesentlich dazu beigetragen, von dem Ringen nach „dein Cen¬
trum der Speculation" die Gehässigkeit und Erbitterung fern zu halten. Ein ei¬
gentlich gemüthliches Interesse nimmt er aber mehr all der Literaturgeschichte über¬
haupt, für die er einen seinen Geschmack, ein durch die vielseitigste Bildung unter¬
stütztes Verständniß mitbringt, bei deren Beurtheilung ihm aber die eigentlich ge¬
lehrte Kenntniß des historischen Details abgeht, ein Mangel, der sich durch eine
allgemeine philosophische Uebersicht der Geschichte kaum ersetzen laß.t. In seiner
Geschichte der Literatur des Mittelalters spielen daher in reizender Verwirrung
zwölf Jahrhunderte in einander, und in seinem neuesten Werk, den Vorlesungen
über Güthe, wird mit einer Entrüstung, die wohl bei einem Aesthetiker, aber nicht
bei einem Historiker verzeihlich ist, gegen die namentlich von Gervinus vertretene
Ansicht geeifert, daß Goethe der eigentlich lebendige geschichtliche Sinn abgegangen
sei: eine Wahrheit, welche die wirklich historische Kritik Goethe garnicht zum Vor¬
wurf machen wird, indem sie ihn als das ideale Bild einer geschichtlich nothwen¬
digen Zeitrichtlmg darstellt, die aber dnrch das Bemühen, in Goethe den absoluten,
alle Vollkommenheiten des Gedankens und des Gefühls in sich concentrirendeu
Dichter zu feinen, mir durch symbolische und allegorische Interpretationen verdeckt
werden kann. Wenn der Dichter bei dem wehvollen Tode eines schuldigen, ent¬
ehrten und zum Wahnsinn getriebenen Wesens eine Stimme von Oben ausrufen
läßt: Sie ist gerettet! so läßt sich nichts dagegen sagen, aber der Philosoph sollte
sich besinnen, ehe er diesem poetischen Einfall den Stempel einer absoluten sittli¬
chen Wahrheit aufprägt.

Die eigentlich pädagogische Wirksamkeit Rosenkranz's entspricht seiner litera¬
rischen , zu der wir auch noch die Königsbergs Lokalschilderungeu rechnen müssen,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/30>, abgerufen am 22.07.2024.