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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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Gegenstände ruhig ans sich einwirken, ist überall aufmerksam, und läßt nicht eher
ab, als bis er auf die letzten Gründe kommt. Darum erhalten wir von ihm auch
die sichersten und objectivsten Aufschlüsse; nicht nur über die Aeußerlichkeiten, die
andere Reisende gleichfalls auffassen, sondern hauptsächlich über das innere Ge¬
triebe des politischen Wesens. Sehr instructiv ist z. B., was er über Cancrin's
Finanzverwaltung mittheilt. Im Allgemeinen kann nun freilich das Bild, welches
wir uns von Rußland, allerdings nur in sehr unbestimmten Umrissen gemacht ha¬
ben, nicht wesentlich verändert werden: ein entsetzlicher Despotismus, und doch
die Furcht des einsamen Selbstherrschers vor einer ideenlosen Oligarchie; im Volk Gut¬
müthigkeit und Barbarei; das Staatsleben colossal, glänzend, aber auf ausgehöhl¬
ten Fundamenten aufgerichtet: gleich jenen Palästen aus Eis, die der Zauberstab
des Kaisers zu momentanen, feenhaftem Glanz herauf beschwört. Es wird uns
unheimlich mitten in diesem leuchtenden Farbenschimmer, in dieser patriarchalischen
Gemüthlichkeit, die ueben dem rafstnirtestcn Egoismus hergeht. Ich sage, we¬
sentlich wird diese Skizze durch Buddeus Bericht uicht geändert; aber sie gewinnt
Bestimmtheit und Farbe. " Groß und abscheulich! " -- Hinweg aus dieser orien¬
talischen Pracht in Europäischen Formen, entführt den Reisenden der Wagen über
Pragas blutgetränkte Felder, durch Warschau, wo ein edles Volk unter dem ei¬
sernen Fuße des Despotismus zuckt. Es ist ein herzloses Wesen, dieses moderne
Cäsarenreich, kalt wie der Himmel, der sich über ihm ausbreitet. Wir verlassen
es mit den Worten des Reisenden: "Wahrlich, es gibt kein Land, kein Reich,
kein deutbares Lebenöverhältniß weiter ans der ganzen weiten Gvtteserde, wo alle
Geschäftsbeziehungen zur umgebenden Welt so leicht und sast nothwendig zum star¬
ren Egoismus verknöchern, als im Czarenreiche." Man setze solchem Worte nicht
die kahle Bemerkung entgegen, daß anch in Nußland das menschliche Beileid wie
überall geübt werde. Solches Mitgefühl für die unabwendbaren Schläge des Ge¬
schickes gehört nicht hierher und kann nicht gemeint sein. Jenes andere Mitge¬
fühl aber, welches die ganze Bevölkerung an den Wohlthaten des Staates gleiche
betheiligt, welches die Gleichberechtigung Aller zu voller Ausbildung und Entwick¬
lung ihrer Persönlichkeit allgemeinherrschend, welche den Menschen als Menschen
vollgültig anerkannt wissen will -- jenes Mitgefühl und Streben erstirbt noth¬
wendig da, wo wir uns fortwährend der eignen Unsicherheit bei vollster Schuld-
losigkeit, der mißtrauischsteu Beargwvhunng bei vollster Arglosigkeit, der fraglosen
Auheimgabe unserer ganzen Existenz an despotische Willkür bewußt sind.

Allein eben wieder nach solchen Augenblicken rein egoistischen Jubels umklam¬
mert uns plötzlich auch der heißeste Schmerz um das zertretene, zerstückte, zer¬
marterte polnische Königreich! Sind darum Deine Birken lauter hängende Bir¬
ken? Wehen darum ihre schwanken Aeste ruhelos hin und wieder, gleich den
aufgelösten Haarflechten einer Mutter, an deren Busen ein wimmernd Kind in
Zuckungen liegt und doch nicht sterben kann? Flüstern diese leis rauschenden


Gegenstände ruhig ans sich einwirken, ist überall aufmerksam, und läßt nicht eher
ab, als bis er auf die letzten Gründe kommt. Darum erhalten wir von ihm auch
die sichersten und objectivsten Aufschlüsse; nicht nur über die Aeußerlichkeiten, die
andere Reisende gleichfalls auffassen, sondern hauptsächlich über das innere Ge¬
triebe des politischen Wesens. Sehr instructiv ist z. B., was er über Cancrin's
Finanzverwaltung mittheilt. Im Allgemeinen kann nun freilich das Bild, welches
wir uns von Rußland, allerdings nur in sehr unbestimmten Umrissen gemacht ha¬
ben, nicht wesentlich verändert werden: ein entsetzlicher Despotismus, und doch
die Furcht des einsamen Selbstherrschers vor einer ideenlosen Oligarchie; im Volk Gut¬
müthigkeit und Barbarei; das Staatsleben colossal, glänzend, aber auf ausgehöhl¬
ten Fundamenten aufgerichtet: gleich jenen Palästen aus Eis, die der Zauberstab
des Kaisers zu momentanen, feenhaftem Glanz herauf beschwört. Es wird uns
unheimlich mitten in diesem leuchtenden Farbenschimmer, in dieser patriarchalischen
Gemüthlichkeit, die ueben dem rafstnirtestcn Egoismus hergeht. Ich sage, we¬
sentlich wird diese Skizze durch Buddeus Bericht uicht geändert; aber sie gewinnt
Bestimmtheit und Farbe. „ Groß und abscheulich! " — Hinweg aus dieser orien¬
talischen Pracht in Europäischen Formen, entführt den Reisenden der Wagen über
Pragas blutgetränkte Felder, durch Warschau, wo ein edles Volk unter dem ei¬
sernen Fuße des Despotismus zuckt. Es ist ein herzloses Wesen, dieses moderne
Cäsarenreich, kalt wie der Himmel, der sich über ihm ausbreitet. Wir verlassen
es mit den Worten des Reisenden: „Wahrlich, es gibt kein Land, kein Reich,
kein deutbares Lebenöverhältniß weiter ans der ganzen weiten Gvtteserde, wo alle
Geschäftsbeziehungen zur umgebenden Welt so leicht und sast nothwendig zum star¬
ren Egoismus verknöchern, als im Czarenreiche." Man setze solchem Worte nicht
die kahle Bemerkung entgegen, daß anch in Nußland das menschliche Beileid wie
überall geübt werde. Solches Mitgefühl für die unabwendbaren Schläge des Ge¬
schickes gehört nicht hierher und kann nicht gemeint sein. Jenes andere Mitge¬
fühl aber, welches die ganze Bevölkerung an den Wohlthaten des Staates gleiche
betheiligt, welches die Gleichberechtigung Aller zu voller Ausbildung und Entwick¬
lung ihrer Persönlichkeit allgemeinherrschend, welche den Menschen als Menschen
vollgültig anerkannt wissen will — jenes Mitgefühl und Streben erstirbt noth¬
wendig da, wo wir uns fortwährend der eignen Unsicherheit bei vollster Schuld-
losigkeit, der mißtrauischsteu Beargwvhunng bei vollster Arglosigkeit, der fraglosen
Auheimgabe unserer ganzen Existenz an despotische Willkür bewußt sind.

Allein eben wieder nach solchen Augenblicken rein egoistischen Jubels umklam¬
mert uns plötzlich auch der heißeste Schmerz um das zertretene, zerstückte, zer¬
marterte polnische Königreich! Sind darum Deine Birken lauter hängende Bir¬
ken? Wehen darum ihre schwanken Aeste ruhelos hin und wieder, gleich den
aufgelösten Haarflechten einer Mutter, an deren Busen ein wimmernd Kind in
Zuckungen liegt und doch nicht sterben kann? Flüstern diese leis rauschenden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/296>, abgerufen am 22.07.2024.