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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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Baltische Trümmer ist die Überschrift des ersten Theiles, der sich
in Liefland und Kurland bewegt. Trümmer sind es deutschen Wesens, mäch¬
tige Reste, die uns ein Zeugniß davon ablegen, daß wenigstens ehemals die
Deutschen Kraft und Unternehmungsgeist besaßen. Wo ehemals die Deutschen
mit dem Schwert und mit den Waffen des Geistes der Cultur einen neuen
Spielraum zu gewinnen dachten, da herrscht jetzt der Russe, und zieht mit
der eisernen Konsequenz seines Despotismus eiuen Lebenszweig nach dem andern
in das mechanische Triebwerk seines ungeheuern, aber wüsten Staatswesens hin¬
ein. Seit Kohl's Reisen hat sich hier viel verändert. "Die trotz aller Bedräng¬
nisse damals noch vorhandene Ruhe und Behaglichkeit der inneren Lebensverhält¬
nisse -- sind sie uns seitdem nicht unterwühlt von Erregungen, welche fortrollen¬
den Erdstößen gleich, die Sicherheit des Bodens vernichten, auf den wir treten?
Hat nicht das Sturmwetter einer immer gewaltsamer eingreifenden Nussificiruug
die durchsichtige Klarheit jeuer nordischen Gemälde überwölkt? Trug nicht eben
die neueste Zeit so viel schwere Klagen und so schmerzliche Jammerrufe aus dein
ostseeprovinzlichen Leben nach Deutschland herüber?" -- Es ist daher natürlich,
daß sich eine Art trüber Stimmung wie ein grauer Flor über das sonst so bunte
und lebensvolle Gemälde breitet. Denn diese Zeichnungen -- das Leben in den
Städten, die Jagden in den herrlichen Waldungen, die Seefahrten -- sind von
einer geschickten Hand ausgeführt; wir werden heimisch in der Fremde, und doch
verlieren wir nie den Rückblick auf unser eigentliches Baterland ans den Auge",
das zwar schmerzliche, aber doch immer erhebende Reflexionen in uns erweckt.
Im zweiten Theile verlassen wir die stammverwandten Provinzen, und lassen
uns von unserem bewährten Führer in die Hauptstadt des gewaltigen Czaarenreichs
leiten. Ein allgemeines Mißtrauen empfängt den deutschen Reisenden. Die Be¬
richte, durch welche fremde Touristen deu Riesen des Nordens der civilisirten Welt
bekannt gemacht haben, machen den Russen argwöhnisch gegen jeden Fremden.
"Touristenhaft läßt sich Petersburg nur ganz äußerlich abthun; durch offene Fra¬
gen ist nichts zu erforschen. Jede Antwort ist parteiisch oder absichtlich, verheh¬
lend oder ostentirend. Selbst diese Parteilichkeit, Absichtlichkeit, Verhehlung und
Ostentation ist eine andere, als wir sie anderwärts gewohnt sind. Sie gilt nicht
nur dem eigenen Zwecke, sie gilt auch dem Frager. Sie legt ihm die Verhält¬
nisse eben so gut für seiue wahrscheinliche Anschauungsweise behaglich zurecht,
als sie dem eigenen Zwecke zu Gefallen deren Schatten nud Lichter vertheilt.
Darum wird der Franzose ein anderes gefärbtes Bild erhalten, als von denselben
Leuten der Deutsche, der Vornehme ein anderes als der Mindervornehme, der
Geschäftsmann ein anderes als der Rentier." Der Verfasser geht also mit gro¬
ßer Behutsamkeit an die Beurtheilung dieser Verhältnisse, die deu unsrigen so fern
liegen, und traut uur der eigenen Anschauung. Er sucht sich aller vorgefaßten
Meinungen zu entledigen, er will weder anklagen noch vertheidigen; er läßt die


Baltische Trümmer ist die Überschrift des ersten Theiles, der sich
in Liefland und Kurland bewegt. Trümmer sind es deutschen Wesens, mäch¬
tige Reste, die uns ein Zeugniß davon ablegen, daß wenigstens ehemals die
Deutschen Kraft und Unternehmungsgeist besaßen. Wo ehemals die Deutschen
mit dem Schwert und mit den Waffen des Geistes der Cultur einen neuen
Spielraum zu gewinnen dachten, da herrscht jetzt der Russe, und zieht mit
der eisernen Konsequenz seines Despotismus eiuen Lebenszweig nach dem andern
in das mechanische Triebwerk seines ungeheuern, aber wüsten Staatswesens hin¬
ein. Seit Kohl's Reisen hat sich hier viel verändert. „Die trotz aller Bedräng¬
nisse damals noch vorhandene Ruhe und Behaglichkeit der inneren Lebensverhält¬
nisse — sind sie uns seitdem nicht unterwühlt von Erregungen, welche fortrollen¬
den Erdstößen gleich, die Sicherheit des Bodens vernichten, auf den wir treten?
Hat nicht das Sturmwetter einer immer gewaltsamer eingreifenden Nussificiruug
die durchsichtige Klarheit jeuer nordischen Gemälde überwölkt? Trug nicht eben
die neueste Zeit so viel schwere Klagen und so schmerzliche Jammerrufe aus dein
ostseeprovinzlichen Leben nach Deutschland herüber?" — Es ist daher natürlich,
daß sich eine Art trüber Stimmung wie ein grauer Flor über das sonst so bunte
und lebensvolle Gemälde breitet. Denn diese Zeichnungen — das Leben in den
Städten, die Jagden in den herrlichen Waldungen, die Seefahrten — sind von
einer geschickten Hand ausgeführt; wir werden heimisch in der Fremde, und doch
verlieren wir nie den Rückblick auf unser eigentliches Baterland ans den Auge»,
das zwar schmerzliche, aber doch immer erhebende Reflexionen in uns erweckt.
Im zweiten Theile verlassen wir die stammverwandten Provinzen, und lassen
uns von unserem bewährten Führer in die Hauptstadt des gewaltigen Czaarenreichs
leiten. Ein allgemeines Mißtrauen empfängt den deutschen Reisenden. Die Be¬
richte, durch welche fremde Touristen deu Riesen des Nordens der civilisirten Welt
bekannt gemacht haben, machen den Russen argwöhnisch gegen jeden Fremden.
„Touristenhaft läßt sich Petersburg nur ganz äußerlich abthun; durch offene Fra¬
gen ist nichts zu erforschen. Jede Antwort ist parteiisch oder absichtlich, verheh¬
lend oder ostentirend. Selbst diese Parteilichkeit, Absichtlichkeit, Verhehlung und
Ostentation ist eine andere, als wir sie anderwärts gewohnt sind. Sie gilt nicht
nur dem eigenen Zwecke, sie gilt auch dem Frager. Sie legt ihm die Verhält¬
nisse eben so gut für seiue wahrscheinliche Anschauungsweise behaglich zurecht,
als sie dem eigenen Zwecke zu Gefallen deren Schatten nud Lichter vertheilt.
Darum wird der Franzose ein anderes gefärbtes Bild erhalten, als von denselben
Leuten der Deutsche, der Vornehme ein anderes als der Mindervornehme, der
Geschäftsmann ein anderes als der Rentier." Der Verfasser geht also mit gro¬
ßer Behutsamkeit an die Beurtheilung dieser Verhältnisse, die deu unsrigen so fern
liegen, und traut uur der eigenen Anschauung. Er sucht sich aller vorgefaßten
Meinungen zu entledigen, er will weder anklagen noch vertheidigen; er läßt die


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[0295] Baltische Trümmer ist die Überschrift des ersten Theiles, der sich in Liefland und Kurland bewegt. Trümmer sind es deutschen Wesens, mäch¬ tige Reste, die uns ein Zeugniß davon ablegen, daß wenigstens ehemals die Deutschen Kraft und Unternehmungsgeist besaßen. Wo ehemals die Deutschen mit dem Schwert und mit den Waffen des Geistes der Cultur einen neuen Spielraum zu gewinnen dachten, da herrscht jetzt der Russe, und zieht mit der eisernen Konsequenz seines Despotismus eiuen Lebenszweig nach dem andern in das mechanische Triebwerk seines ungeheuern, aber wüsten Staatswesens hin¬ ein. Seit Kohl's Reisen hat sich hier viel verändert. „Die trotz aller Bedräng¬ nisse damals noch vorhandene Ruhe und Behaglichkeit der inneren Lebensverhält¬ nisse — sind sie uns seitdem nicht unterwühlt von Erregungen, welche fortrollen¬ den Erdstößen gleich, die Sicherheit des Bodens vernichten, auf den wir treten? Hat nicht das Sturmwetter einer immer gewaltsamer eingreifenden Nussificiruug die durchsichtige Klarheit jeuer nordischen Gemälde überwölkt? Trug nicht eben die neueste Zeit so viel schwere Klagen und so schmerzliche Jammerrufe aus dein ostseeprovinzlichen Leben nach Deutschland herüber?" — Es ist daher natürlich, daß sich eine Art trüber Stimmung wie ein grauer Flor über das sonst so bunte und lebensvolle Gemälde breitet. Denn diese Zeichnungen — das Leben in den Städten, die Jagden in den herrlichen Waldungen, die Seefahrten — sind von einer geschickten Hand ausgeführt; wir werden heimisch in der Fremde, und doch verlieren wir nie den Rückblick auf unser eigentliches Baterland ans den Auge», das zwar schmerzliche, aber doch immer erhebende Reflexionen in uns erweckt. Im zweiten Theile verlassen wir die stammverwandten Provinzen, und lassen uns von unserem bewährten Führer in die Hauptstadt des gewaltigen Czaarenreichs leiten. Ein allgemeines Mißtrauen empfängt den deutschen Reisenden. Die Be¬ richte, durch welche fremde Touristen deu Riesen des Nordens der civilisirten Welt bekannt gemacht haben, machen den Russen argwöhnisch gegen jeden Fremden. „Touristenhaft läßt sich Petersburg nur ganz äußerlich abthun; durch offene Fra¬ gen ist nichts zu erforschen. Jede Antwort ist parteiisch oder absichtlich, verheh¬ lend oder ostentirend. Selbst diese Parteilichkeit, Absichtlichkeit, Verhehlung und Ostentation ist eine andere, als wir sie anderwärts gewohnt sind. Sie gilt nicht nur dem eigenen Zwecke, sie gilt auch dem Frager. Sie legt ihm die Verhält¬ nisse eben so gut für seiue wahrscheinliche Anschauungsweise behaglich zurecht, als sie dem eigenen Zwecke zu Gefallen deren Schatten nud Lichter vertheilt. Darum wird der Franzose ein anderes gefärbtes Bild erhalten, als von denselben Leuten der Deutsche, der Vornehme ein anderes als der Mindervornehme, der Geschäftsmann ein anderes als der Rentier." Der Verfasser geht also mit gro¬ ßer Behutsamkeit an die Beurtheilung dieser Verhältnisse, die deu unsrigen so fern liegen, und traut uur der eigenen Anschauung. Er sucht sich aller vorgefaßten Meinungen zu entledigen, er will weder anklagen noch vertheidigen; er läßt die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/295>, abgerufen am 22.07.2024.