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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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K. F. Neumann." (Stuttgart und Tübingen, Cotta.) Es behandelt die Ge¬
schichte Chinas in fünf Perioden. Die erste: "das mythologische Zeitalter", geht
bis zur Sündfluth; die zweite, mit der Bezeichnung: "ungewisse Geschichte", bis
ans Konfucius; dann folgt die alte Geschichte, bis zur Herrschaft der Tang-Dynastie,
n. Chr.; das Mittelalter bis auf die Vertreibung der Mongolen 1368; end¬
lich die neue Zeit. Der Grad der Ausführlichkeit ist in einem richtigen Verhältniß
zu dem Interesse, das die dargestellten Begebenheiten erregen: die drei ersten Pe¬
rioden umfassen 21.8 Seiten, die vierte 220, der erste Abschnitt der fünften, bis
zum Jahr 1644, 162 Seiten, von da bis ans den jetztregierenden Sohn des
Himmels 197, endlich die gegenwärtige Negierung 115 Seiten. -- So haben
wir nun ein vollständiges Compendium dieser fremdartigen Geschichte, das äußer¬
lich ebenso aussieht, wie etwa die Geschichte von England oder Frankreich; es
wird ein König nach dem anderen durchgenommen, von einem jeden eine Charac-
teristik gegeben, das Merkwürdige, was er gethan und erlebt hat, aufgezeichnet;
und könnte man den sonderbaren Umstand ans dem Gedächtniß verlieren, daß alle
diese Begebenheiten anßer allem Zusammenhang mit der sonst uus bekannten Ge¬
schichte stehen, so würde man dem Faden des Erzählers unbefangen folgen, wie
irgend einer anderen Historie. Ich möchte das einen Mangel in der Darstel¬
lung nennen, daß man eben diese Fremdartigkeit nicht herausfühlt. Gützlaff
schreibt noch Geschichte, wie man es in Deutschland im vorigen Jahrhun¬
dert that: er uimiut aus seinen Chinesischen Quellen, was ihn gerade inter-
essirt; und die einzige Einheit, die er dem aufgefundenen Material gibt, ist
die chronologische, wobei die Genauigkeit der Chinesischen Geschichtschreiber in die¬
ser Beziehung ihm zu Statten kommt. Es soll das kein Tadel sein, denn bei
einer uns so fremden Geschichte, wie die Chinesische, ist es schon ein unendlicher
Gewinn, nnr erst einmal das vorhandene Material in seinem ganzen Umfang über¬
sehen zu können. Für uns wäre es aber allerdings viel wichtiger, wenn auf das,
was den Chinese" selbst bekannt ist, und was sie daher weniger beschäftigt hat,
auf die Entwickelung der Cultur in ihrer Eigenthümlichkeit, in ihrer specifischen
Verschiedenheit von der Europäischen, ein größeres Gewicht gelegt wäre. Man
ist gewohnt, China als ein Reich des Stillstandes anzusehen, wo es heute ebenso
aussieht, als vor Jahrtausenden. Allerdings hat die isolirte Lage dieses Landes,
sein Absperrnngssystem gegen die fremde Cultur, eine großartige, innere Entwicke-
trug unmöglich gemacht; aber ohne Entwickelung überhaupt ist die menschliche Ge¬
sellschaft nicht zu denken. Bekanntlich hat Hegel in einem der schönsten Abschnitte
seiner Geschichtsphilosophie in einem glänzenden Gemälde die Stellung zu ver>
sinnlichen gesucht, welche China in der Befreiung des Geistes einnimmt. Nie ist
etwas Geistvolleres über diesen Gegenstand gesagt worden, aber auf objective
Wahrheit kann ein Gemälde, das ans vereinzelten Reminiscenzen aus einer Ge¬
schichte, die viele Jahrtausende umfaßt, zusammengewebt ist, keinen Anspruch um-


K. F. Neumann." (Stuttgart und Tübingen, Cotta.) Es behandelt die Ge¬
schichte Chinas in fünf Perioden. Die erste: „das mythologische Zeitalter", geht
bis zur Sündfluth; die zweite, mit der Bezeichnung: „ungewisse Geschichte", bis
ans Konfucius; dann folgt die alte Geschichte, bis zur Herrschaft der Tang-Dynastie,
n. Chr.; das Mittelalter bis auf die Vertreibung der Mongolen 1368; end¬
lich die neue Zeit. Der Grad der Ausführlichkeit ist in einem richtigen Verhältniß
zu dem Interesse, das die dargestellten Begebenheiten erregen: die drei ersten Pe¬
rioden umfassen 21.8 Seiten, die vierte 220, der erste Abschnitt der fünften, bis
zum Jahr 1644, 162 Seiten, von da bis ans den jetztregierenden Sohn des
Himmels 197, endlich die gegenwärtige Negierung 115 Seiten. — So haben
wir nun ein vollständiges Compendium dieser fremdartigen Geschichte, das äußer¬
lich ebenso aussieht, wie etwa die Geschichte von England oder Frankreich; es
wird ein König nach dem anderen durchgenommen, von einem jeden eine Charac-
teristik gegeben, das Merkwürdige, was er gethan und erlebt hat, aufgezeichnet;
und könnte man den sonderbaren Umstand ans dem Gedächtniß verlieren, daß alle
diese Begebenheiten anßer allem Zusammenhang mit der sonst uus bekannten Ge¬
schichte stehen, so würde man dem Faden des Erzählers unbefangen folgen, wie
irgend einer anderen Historie. Ich möchte das einen Mangel in der Darstel¬
lung nennen, daß man eben diese Fremdartigkeit nicht herausfühlt. Gützlaff
schreibt noch Geschichte, wie man es in Deutschland im vorigen Jahrhun¬
dert that: er uimiut aus seinen Chinesischen Quellen, was ihn gerade inter-
essirt; und die einzige Einheit, die er dem aufgefundenen Material gibt, ist
die chronologische, wobei die Genauigkeit der Chinesischen Geschichtschreiber in die¬
ser Beziehung ihm zu Statten kommt. Es soll das kein Tadel sein, denn bei
einer uns so fremden Geschichte, wie die Chinesische, ist es schon ein unendlicher
Gewinn, nnr erst einmal das vorhandene Material in seinem ganzen Umfang über¬
sehen zu können. Für uns wäre es aber allerdings viel wichtiger, wenn auf das,
was den Chinese» selbst bekannt ist, und was sie daher weniger beschäftigt hat,
auf die Entwickelung der Cultur in ihrer Eigenthümlichkeit, in ihrer specifischen
Verschiedenheit von der Europäischen, ein größeres Gewicht gelegt wäre. Man
ist gewohnt, China als ein Reich des Stillstandes anzusehen, wo es heute ebenso
aussieht, als vor Jahrtausenden. Allerdings hat die isolirte Lage dieses Landes,
sein Absperrnngssystem gegen die fremde Cultur, eine großartige, innere Entwicke-
trug unmöglich gemacht; aber ohne Entwickelung überhaupt ist die menschliche Ge¬
sellschaft nicht zu denken. Bekanntlich hat Hegel in einem der schönsten Abschnitte
seiner Geschichtsphilosophie in einem glänzenden Gemälde die Stellung zu ver>
sinnlichen gesucht, welche China in der Befreiung des Geistes einnimmt. Nie ist
etwas Geistvolleres über diesen Gegenstand gesagt worden, aber auf objective
Wahrheit kann ein Gemälde, das ans vereinzelten Reminiscenzen aus einer Ge¬
schichte, die viele Jahrtausende umfaßt, zusammengewebt ist, keinen Anspruch um-


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[0292] K. F. Neumann." (Stuttgart und Tübingen, Cotta.) Es behandelt die Ge¬ schichte Chinas in fünf Perioden. Die erste: „das mythologische Zeitalter", geht bis zur Sündfluth; die zweite, mit der Bezeichnung: „ungewisse Geschichte", bis ans Konfucius; dann folgt die alte Geschichte, bis zur Herrschaft der Tang-Dynastie, n. Chr.; das Mittelalter bis auf die Vertreibung der Mongolen 1368; end¬ lich die neue Zeit. Der Grad der Ausführlichkeit ist in einem richtigen Verhältniß zu dem Interesse, das die dargestellten Begebenheiten erregen: die drei ersten Pe¬ rioden umfassen 21.8 Seiten, die vierte 220, der erste Abschnitt der fünften, bis zum Jahr 1644, 162 Seiten, von da bis ans den jetztregierenden Sohn des Himmels 197, endlich die gegenwärtige Negierung 115 Seiten. — So haben wir nun ein vollständiges Compendium dieser fremdartigen Geschichte, das äußer¬ lich ebenso aussieht, wie etwa die Geschichte von England oder Frankreich; es wird ein König nach dem anderen durchgenommen, von einem jeden eine Charac- teristik gegeben, das Merkwürdige, was er gethan und erlebt hat, aufgezeichnet; und könnte man den sonderbaren Umstand ans dem Gedächtniß verlieren, daß alle diese Begebenheiten anßer allem Zusammenhang mit der sonst uus bekannten Ge¬ schichte stehen, so würde man dem Faden des Erzählers unbefangen folgen, wie irgend einer anderen Historie. Ich möchte das einen Mangel in der Darstel¬ lung nennen, daß man eben diese Fremdartigkeit nicht herausfühlt. Gützlaff schreibt noch Geschichte, wie man es in Deutschland im vorigen Jahrhun¬ dert that: er uimiut aus seinen Chinesischen Quellen, was ihn gerade inter- essirt; und die einzige Einheit, die er dem aufgefundenen Material gibt, ist die chronologische, wobei die Genauigkeit der Chinesischen Geschichtschreiber in die¬ ser Beziehung ihm zu Statten kommt. Es soll das kein Tadel sein, denn bei einer uns so fremden Geschichte, wie die Chinesische, ist es schon ein unendlicher Gewinn, nnr erst einmal das vorhandene Material in seinem ganzen Umfang über¬ sehen zu können. Für uns wäre es aber allerdings viel wichtiger, wenn auf das, was den Chinese» selbst bekannt ist, und was sie daher weniger beschäftigt hat, auf die Entwickelung der Cultur in ihrer Eigenthümlichkeit, in ihrer specifischen Verschiedenheit von der Europäischen, ein größeres Gewicht gelegt wäre. Man ist gewohnt, China als ein Reich des Stillstandes anzusehen, wo es heute ebenso aussieht, als vor Jahrtausenden. Allerdings hat die isolirte Lage dieses Landes, sein Absperrnngssystem gegen die fremde Cultur, eine großartige, innere Entwicke- trug unmöglich gemacht; aber ohne Entwickelung überhaupt ist die menschliche Ge¬ sellschaft nicht zu denken. Bekanntlich hat Hegel in einem der schönsten Abschnitte seiner Geschichtsphilosophie in einem glänzenden Gemälde die Stellung zu ver> sinnlichen gesucht, welche China in der Befreiung des Geistes einnimmt. Nie ist etwas Geistvolleres über diesen Gegenstand gesagt worden, aber auf objective Wahrheit kann ein Gemälde, das ans vereinzelten Reminiscenzen aus einer Ge¬ schichte, die viele Jahrtausende umfaßt, zusammengewebt ist, keinen Anspruch um-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/292>, abgerufen am 24.08.2024.