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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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Abgesehen von allen Mysterien steht Folgendes im Christenthum unumstößlich
fest: Die Sünde der Welt sei durch ein Menschenopfer gesichert worden. Dieses
Opfer werde von der Kirche unaufhörlich erneut, symbolisch, aber so daß für den
Gläubigen Fleisch und Blut eine Realität ist. Es galt in den Zeiten des rein¬
sten Christenthums als der höchste Anspruch auf Seligkeit, sich im Märtyrertode
für Gott zu opfern. Es hat anderthalb Jahrtausende lang in der ganzen Chri¬
stenheit die Lehre geherrscht, und herrscht noch in dem größern Theil derselben,
daß eine Aufopferung der natürlichen Triebe -- der Geschlechtsliebe, des Stre-
bens nach Besitz, des freien Denkens -- das heiligste Leben ausmache. Die
Nonnen, die der Welt absterben, werden als Ve> lobte des Herrn dargestellt.
Die Ungläubigen werden im katholischen wie im lutherischen Katechismus der Hölle
anheimgegeben; in einem großen Theil der christlichen Geschichte dem irdischen
Feuertode -- noch Calvin ließ einen Ketzer verbrennen. Die Erde ist nach der
Lehre aller christlichen Kirchen ein Jammerthal, aus dem die Seele sich hinaussehnt.

Wenn nun die Orthodoxen erklären: Ja, dies lehrt das Christenthum, und so ist
es recht und in der Ordnung -- so sind sie consequent und darum in ihrem Recht.
Wenn die Nationalisten behaupten: dies kann unsere Religion nicht lehren, denn
das widerspricht unserm Gefühl, und unsere Religion kann unserm Gefühl nicht
widersprechen, so sind sie wenigstens practisch anzuerkennen. Aber wenn die moderne
Philosophie beides festhalten will, die Lehre der Aufopferung und das Ge¬
fühl der Freiheit, wenn sie den ganzen Inhalt der christliche" Lehre und den gan¬
zen Inhalt des modernen Bewußtseins gemeinsam adoptirt, und eiues durch das
audere vertuscht, so ist eine solche -- bewußte oder unbewußte -- Heuchelei mit
allen Waffen zu bekämpfen, die der gesunde Menschenverstand und die Gelehrsam¬
keit an die Hand geben: eine Gelehrsamkeit, die vor keinen Consequenzen ihrer
Forschung zurückschaudern darf, aber die eben so wenig in übereilte" Voraussetzun¬
gen ein schimmerndes aber haltloses Resultat zu erstreben das Recht hat.


I.-5.


Abgesehen von allen Mysterien steht Folgendes im Christenthum unumstößlich
fest: Die Sünde der Welt sei durch ein Menschenopfer gesichert worden. Dieses
Opfer werde von der Kirche unaufhörlich erneut, symbolisch, aber so daß für den
Gläubigen Fleisch und Blut eine Realität ist. Es galt in den Zeiten des rein¬
sten Christenthums als der höchste Anspruch auf Seligkeit, sich im Märtyrertode
für Gott zu opfern. Es hat anderthalb Jahrtausende lang in der ganzen Chri¬
stenheit die Lehre geherrscht, und herrscht noch in dem größern Theil derselben,
daß eine Aufopferung der natürlichen Triebe — der Geschlechtsliebe, des Stre-
bens nach Besitz, des freien Denkens — das heiligste Leben ausmache. Die
Nonnen, die der Welt absterben, werden als Ve> lobte des Herrn dargestellt.
Die Ungläubigen werden im katholischen wie im lutherischen Katechismus der Hölle
anheimgegeben; in einem großen Theil der christlichen Geschichte dem irdischen
Feuertode — noch Calvin ließ einen Ketzer verbrennen. Die Erde ist nach der
Lehre aller christlichen Kirchen ein Jammerthal, aus dem die Seele sich hinaussehnt.

Wenn nun die Orthodoxen erklären: Ja, dies lehrt das Christenthum, und so ist
es recht und in der Ordnung — so sind sie consequent und darum in ihrem Recht.
Wenn die Nationalisten behaupten: dies kann unsere Religion nicht lehren, denn
das widerspricht unserm Gefühl, und unsere Religion kann unserm Gefühl nicht
widersprechen, so sind sie wenigstens practisch anzuerkennen. Aber wenn die moderne
Philosophie beides festhalten will, die Lehre der Aufopferung und das Ge¬
fühl der Freiheit, wenn sie den ganzen Inhalt der christliche» Lehre und den gan¬
zen Inhalt des modernen Bewußtseins gemeinsam adoptirt, und eiues durch das
audere vertuscht, so ist eine solche — bewußte oder unbewußte — Heuchelei mit
allen Waffen zu bekämpfen, die der gesunde Menschenverstand und die Gelehrsam¬
keit an die Hand geben: eine Gelehrsamkeit, die vor keinen Consequenzen ihrer
Forschung zurückschaudern darf, aber die eben so wenig in übereilte« Voraussetzun¬
gen ein schimmerndes aber haltloses Resultat zu erstreben das Recht hat.


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[0259] Abgesehen von allen Mysterien steht Folgendes im Christenthum unumstößlich fest: Die Sünde der Welt sei durch ein Menschenopfer gesichert worden. Dieses Opfer werde von der Kirche unaufhörlich erneut, symbolisch, aber so daß für den Gläubigen Fleisch und Blut eine Realität ist. Es galt in den Zeiten des rein¬ sten Christenthums als der höchste Anspruch auf Seligkeit, sich im Märtyrertode für Gott zu opfern. Es hat anderthalb Jahrtausende lang in der ganzen Chri¬ stenheit die Lehre geherrscht, und herrscht noch in dem größern Theil derselben, daß eine Aufopferung der natürlichen Triebe — der Geschlechtsliebe, des Stre- bens nach Besitz, des freien Denkens — das heiligste Leben ausmache. Die Nonnen, die der Welt absterben, werden als Ve> lobte des Herrn dargestellt. Die Ungläubigen werden im katholischen wie im lutherischen Katechismus der Hölle anheimgegeben; in einem großen Theil der christlichen Geschichte dem irdischen Feuertode — noch Calvin ließ einen Ketzer verbrennen. Die Erde ist nach der Lehre aller christlichen Kirchen ein Jammerthal, aus dem die Seele sich hinaussehnt. Wenn nun die Orthodoxen erklären: Ja, dies lehrt das Christenthum, und so ist es recht und in der Ordnung — so sind sie consequent und darum in ihrem Recht. Wenn die Nationalisten behaupten: dies kann unsere Religion nicht lehren, denn das widerspricht unserm Gefühl, und unsere Religion kann unserm Gefühl nicht widersprechen, so sind sie wenigstens practisch anzuerkennen. Aber wenn die moderne Philosophie beides festhalten will, die Lehre der Aufopferung und das Ge¬ fühl der Freiheit, wenn sie den ganzen Inhalt der christliche» Lehre und den gan¬ zen Inhalt des modernen Bewußtseins gemeinsam adoptirt, und eiues durch das audere vertuscht, so ist eine solche — bewußte oder unbewußte — Heuchelei mit allen Waffen zu bekämpfen, die der gesunde Menschenverstand und die Gelehrsam¬ keit an die Hand geben: eine Gelehrsamkeit, die vor keinen Consequenzen ihrer Forschung zurückschaudern darf, aber die eben so wenig in übereilte« Voraussetzun¬ gen ein schimmerndes aber haltloses Resultat zu erstreben das Recht hat. I.-5.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/259>, abgerufen am 26.06.2024.