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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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van der Velde die Wunder der vornehmen Welt: sie führten historische Wachsfiguren,
von denen man freilich aus einer Cleopatra durch genüge Veränderung leicht einen
Diogenes machen konnte, auf ihr Marionettentheater, und sprachen hinter der
Coulisse zierliche Worte der Liebe und Ehre, während sie ihre Puppen an ziem¬
lich dicken Drahtfaden dazu tanzen ließen, auch sich keinesweges genirten, wenn
der Draht riß, mit den eigenen Händen in die Bühne überzugreifen, und wie
ein nous ox imreliiiur die unglückselige Ophelia aus der unfreiwilligen Ohnmacht
aufzurütteln.

Also der Mangel der deutschen Belletristik in der Restaurationsperiode be¬
stand darin, daß die geistreiche Novelle stofflos war, daß der "ideale" Roman
nnr solche Figuren brachte, die in ein Modejournal oder in das Fenster eines
Coiffeurs sich passen, und daß die Darstellung des wirklichen Lebens in dem
Schmutze wühlte, deu Jeder schon zu Hause vorfand.

Man wird sich erinnern, daß einst die schweizer Aesthetiker in ihren Angriffen
gegen die Gottschedianer als Hauptaufgabe der Poesie darstellen: daß sie Natürliches,
Neues, Wunderbares und Moralisches liefern sollte. Sie sollte die Natur nach¬
ahmen, denn sonst fand sie keinen Glauben; sie sollte Neues geben, denn sonst
erregte sie keinen Enthusiasmus, Wunderbares, denn sonst beschäftigte sie nicht die
Phantasie; sie sollte moralischen Inhalt haben, denn sonst rührte sie nicht. An¬
forderungen, die sehr wenig nach Idealität schmecken, die aber von einer vortreff¬
lichen Einsicht zeigen in das, was der Masse Noth thut.

Eugen Sue und seiue Schule erfüllt diese Anforderungen in hohem Grade.
Er ahmt die Natur nach, bis auf deu Schindanger und die Galeeren; er gibt
Neues, denn das gewöhnliche Lescpublikum ist in den Zuchthäusern eben so wenig
zu Hause als in dem Boudoir der Lota Montez, Wunderbares, denn Vatermord,
Giftmischerei u. dergl. stoßen einem wenigstens nicht alle Tage auf, und an der
Moral läßt er es nnn gar nicht fehlen, sie ist bei ihm vielmehr, so zu sagen,
faustdick.

Wenn die deutschen Schriftsteller also darüber klagen, daß das Publikum noch
immer dem wälschen Wesen zufällt, daß es nicht Patriotismus genug besitzt, sich
an vaterländischen Produkten zu cnnnhiren -- eine Klage, die z. B. Munde mit
großer Lebhaftigkeit in der Vvsstschen erhoben hat - so wird das Publikum wohl
mit Recht antworten: der Genuß ist ein kosmopolitisches Institut, und wenn das
Pariser Leben oder die Abenteuerlichkeit der schottischen Hochländer mehr amnftrt,
als "das Leben und die Meinungen" eines deutschen Gelehrten, so kann ich nichts
thun, als die vaterländische Poesie beklagen, weil ich zu schwach zum Helfen bin.

Es ist ein Fluch, der auf den Deutschen ruht, daß sie ihre Eindrücke in der
Regel erst aus der zweiten Hand empfangen. Nicht nnr jene Literatur, deren
Gegenstand wieder die Literatur ist, die Poesie, die einen Richard Savage, Gott-


van der Velde die Wunder der vornehmen Welt: sie führten historische Wachsfiguren,
von denen man freilich aus einer Cleopatra durch genüge Veränderung leicht einen
Diogenes machen konnte, auf ihr Marionettentheater, und sprachen hinter der
Coulisse zierliche Worte der Liebe und Ehre, während sie ihre Puppen an ziem¬
lich dicken Drahtfaden dazu tanzen ließen, auch sich keinesweges genirten, wenn
der Draht riß, mit den eigenen Händen in die Bühne überzugreifen, und wie
ein nous ox imreliiiur die unglückselige Ophelia aus der unfreiwilligen Ohnmacht
aufzurütteln.

Also der Mangel der deutschen Belletristik in der Restaurationsperiode be¬
stand darin, daß die geistreiche Novelle stofflos war, daß der „ideale" Roman
nnr solche Figuren brachte, die in ein Modejournal oder in das Fenster eines
Coiffeurs sich passen, und daß die Darstellung des wirklichen Lebens in dem
Schmutze wühlte, deu Jeder schon zu Hause vorfand.

Man wird sich erinnern, daß einst die schweizer Aesthetiker in ihren Angriffen
gegen die Gottschedianer als Hauptaufgabe der Poesie darstellen: daß sie Natürliches,
Neues, Wunderbares und Moralisches liefern sollte. Sie sollte die Natur nach¬
ahmen, denn sonst fand sie keinen Glauben; sie sollte Neues geben, denn sonst
erregte sie keinen Enthusiasmus, Wunderbares, denn sonst beschäftigte sie nicht die
Phantasie; sie sollte moralischen Inhalt haben, denn sonst rührte sie nicht. An¬
forderungen, die sehr wenig nach Idealität schmecken, die aber von einer vortreff¬
lichen Einsicht zeigen in das, was der Masse Noth thut.

Eugen Sue und seiue Schule erfüllt diese Anforderungen in hohem Grade.
Er ahmt die Natur nach, bis auf deu Schindanger und die Galeeren; er gibt
Neues, denn das gewöhnliche Lescpublikum ist in den Zuchthäusern eben so wenig
zu Hause als in dem Boudoir der Lota Montez, Wunderbares, denn Vatermord,
Giftmischerei u. dergl. stoßen einem wenigstens nicht alle Tage auf, und an der
Moral läßt er es nnn gar nicht fehlen, sie ist bei ihm vielmehr, so zu sagen,
faustdick.

Wenn die deutschen Schriftsteller also darüber klagen, daß das Publikum noch
immer dem wälschen Wesen zufällt, daß es nicht Patriotismus genug besitzt, sich
an vaterländischen Produkten zu cnnnhiren — eine Klage, die z. B. Munde mit
großer Lebhaftigkeit in der Vvsstschen erhoben hat - so wird das Publikum wohl
mit Recht antworten: der Genuß ist ein kosmopolitisches Institut, und wenn das
Pariser Leben oder die Abenteuerlichkeit der schottischen Hochländer mehr amnftrt,
als „das Leben und die Meinungen" eines deutschen Gelehrten, so kann ich nichts
thun, als die vaterländische Poesie beklagen, weil ich zu schwach zum Helfen bin.

Es ist ein Fluch, der auf den Deutschen ruht, daß sie ihre Eindrücke in der
Regel erst aus der zweiten Hand empfangen. Nicht nnr jene Literatur, deren
Gegenstand wieder die Literatur ist, die Poesie, die einen Richard Savage, Gott-


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[0213] van der Velde die Wunder der vornehmen Welt: sie führten historische Wachsfiguren, von denen man freilich aus einer Cleopatra durch genüge Veränderung leicht einen Diogenes machen konnte, auf ihr Marionettentheater, und sprachen hinter der Coulisse zierliche Worte der Liebe und Ehre, während sie ihre Puppen an ziem¬ lich dicken Drahtfaden dazu tanzen ließen, auch sich keinesweges genirten, wenn der Draht riß, mit den eigenen Händen in die Bühne überzugreifen, und wie ein nous ox imreliiiur die unglückselige Ophelia aus der unfreiwilligen Ohnmacht aufzurütteln. Also der Mangel der deutschen Belletristik in der Restaurationsperiode be¬ stand darin, daß die geistreiche Novelle stofflos war, daß der „ideale" Roman nnr solche Figuren brachte, die in ein Modejournal oder in das Fenster eines Coiffeurs sich passen, und daß die Darstellung des wirklichen Lebens in dem Schmutze wühlte, deu Jeder schon zu Hause vorfand. Man wird sich erinnern, daß einst die schweizer Aesthetiker in ihren Angriffen gegen die Gottschedianer als Hauptaufgabe der Poesie darstellen: daß sie Natürliches, Neues, Wunderbares und Moralisches liefern sollte. Sie sollte die Natur nach¬ ahmen, denn sonst fand sie keinen Glauben; sie sollte Neues geben, denn sonst erregte sie keinen Enthusiasmus, Wunderbares, denn sonst beschäftigte sie nicht die Phantasie; sie sollte moralischen Inhalt haben, denn sonst rührte sie nicht. An¬ forderungen, die sehr wenig nach Idealität schmecken, die aber von einer vortreff¬ lichen Einsicht zeigen in das, was der Masse Noth thut. Eugen Sue und seiue Schule erfüllt diese Anforderungen in hohem Grade. Er ahmt die Natur nach, bis auf deu Schindanger und die Galeeren; er gibt Neues, denn das gewöhnliche Lescpublikum ist in den Zuchthäusern eben so wenig zu Hause als in dem Boudoir der Lota Montez, Wunderbares, denn Vatermord, Giftmischerei u. dergl. stoßen einem wenigstens nicht alle Tage auf, und an der Moral läßt er es nnn gar nicht fehlen, sie ist bei ihm vielmehr, so zu sagen, faustdick. Wenn die deutschen Schriftsteller also darüber klagen, daß das Publikum noch immer dem wälschen Wesen zufällt, daß es nicht Patriotismus genug besitzt, sich an vaterländischen Produkten zu cnnnhiren — eine Klage, die z. B. Munde mit großer Lebhaftigkeit in der Vvsstschen erhoben hat - so wird das Publikum wohl mit Recht antworten: der Genuß ist ein kosmopolitisches Institut, und wenn das Pariser Leben oder die Abenteuerlichkeit der schottischen Hochländer mehr amnftrt, als „das Leben und die Meinungen" eines deutschen Gelehrten, so kann ich nichts thun, als die vaterländische Poesie beklagen, weil ich zu schwach zum Helfen bin. Es ist ein Fluch, der auf den Deutschen ruht, daß sie ihre Eindrücke in der Regel erst aus der zweiten Hand empfangen. Nicht nnr jene Literatur, deren Gegenstand wieder die Literatur ist, die Poesie, die einen Richard Savage, Gott-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/213>, abgerufen am 22.07.2024.