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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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sittliche Ideale vorschweben und die Wirklichkeit verwirren; die andern malen das
Leben unbefangen hin, wie sie es sehen, ihre Ideale sind ihnen gegeben, der
Typus des Edlen und Schönen liegt nicht hinter der geschichtlichen Entwickelung.

Wodurch zieht namentlich E. Sue die Masse so an? Gewiß nicht durch seine
poetische Vollendung, im Gegentheil würde man sich ein coufnseres Durcheinander
schwer vorstellen können; aber auch wohl nicht durch seine politische Doctrin, seine
moralischen Vcrbcsserungs-Jdeen; es ist bekannt, daß seine eifrigsten Leser der¬
gleichen überschlagen.

Ich finde zwei verschiedene Gründe. Der eine, schlimme, ist das Gelüst eines bla-
sirten Zeitalters nach Schauder und Grauen. Der andere ist berechtigter. Das Publikum
ist der abstracten Literatur, deren Schreiben sich immer wieder auf Geschriebenes bezieht,
herzlich müde; es hungert nach Realität. Es war eine von den Marotten unserer
romantischen Schule, dieses Bedürfniß uach Thatsächlichen als ein ungebildetes Gelüst
zu brandmarken, das nur der Populace eigen sei; die Realität war bei ihnen nur
ein Spielball der souveränen Ironie, ein Traumwesen, in dem sich die Willkür
der Genialität nach dem Wechsel.ihrer Stimmungen frei und ohne Schranken
bewegte. Ein ästhetischer Genuß für eine feingestimmte Seele konnte nach dieser
Doctrin der Blastrtheit, nur der I-June-Kork sein, der dem gemeinen Volke wider¬
stand: die gegenstandlose Empfindung, die Dämmcrungswelt der Sehnsucht und
Ahnung, der Opiumrausch einer blos subjectiven Erregung. Sehr übel hat
diese Theorie auf die deutsche Literatur influirt; was sich auf Genialität etwas
einbildete, schwelgte in dieser Schattenwelt der von ihrem Object abgelösten Gedan¬
ken -- ein Kunststück, in dem sich die moderne Philosophie mit der von ihr so
lebhast bekämpften Belletristik brüderlich vereinte -- und die eigentliche Poesie,
d. h. die schöne, anziehende Darstellung der Wirklichkeit, wurde Postsecretairen
und pensionirten Rittmeistern überlassen. Denn wo auf der einen Seite die Ari¬
stokratie der Bildung sich in dem Schwindel des Nihilismus verliert, wird die
Reaction sich um so lebhafter an die endliche, blos empirische Seite des Lebens
anklammern, an das Gemeine, was gestern war und morgen wiederkehrt. Wenn
Novalis, Tieck, Schlegel und ihre Epigonen in der Welt nichts weiter sahen als
romantische Waldeinsamkeiten und ästhetische Theecirkcl, so erschien die Muse
einem Clauren, Schilling und wie sie sonst heißen, in der Form eines rothnasi-
gen Stubenmädchens, das eine zu große Beschäftigung verhindert, sich zu wa¬
schen oder die Haare zu kämmen. Und so sehr man Recht hatte, sich vor dieser
Poesie des Alkovens die Nase zu stopfen, so war sie doch jenem impotenten
Traumwesen der Romantik gegenüber im Recht. Man erfuhr doch etwas: eiuer
gewann das große Loos, oder wurde Salzinspector, oder verheirathete sich, und
was sonst in der Misere des Lebens vorgeht. Oder wenn das Publikum sich
mehr nach dem hingezogen fühlte, was es nicht hatte, so eröffneten Tromlitz und


sittliche Ideale vorschweben und die Wirklichkeit verwirren; die andern malen das
Leben unbefangen hin, wie sie es sehen, ihre Ideale sind ihnen gegeben, der
Typus des Edlen und Schönen liegt nicht hinter der geschichtlichen Entwickelung.

Wodurch zieht namentlich E. Sue die Masse so an? Gewiß nicht durch seine
poetische Vollendung, im Gegentheil würde man sich ein coufnseres Durcheinander
schwer vorstellen können; aber auch wohl nicht durch seine politische Doctrin, seine
moralischen Vcrbcsserungs-Jdeen; es ist bekannt, daß seine eifrigsten Leser der¬
gleichen überschlagen.

Ich finde zwei verschiedene Gründe. Der eine, schlimme, ist das Gelüst eines bla-
sirten Zeitalters nach Schauder und Grauen. Der andere ist berechtigter. Das Publikum
ist der abstracten Literatur, deren Schreiben sich immer wieder auf Geschriebenes bezieht,
herzlich müde; es hungert nach Realität. Es war eine von den Marotten unserer
romantischen Schule, dieses Bedürfniß uach Thatsächlichen als ein ungebildetes Gelüst
zu brandmarken, das nur der Populace eigen sei; die Realität war bei ihnen nur
ein Spielball der souveränen Ironie, ein Traumwesen, in dem sich die Willkür
der Genialität nach dem Wechsel.ihrer Stimmungen frei und ohne Schranken
bewegte. Ein ästhetischer Genuß für eine feingestimmte Seele konnte nach dieser
Doctrin der Blastrtheit, nur der I-June-Kork sein, der dem gemeinen Volke wider¬
stand: die gegenstandlose Empfindung, die Dämmcrungswelt der Sehnsucht und
Ahnung, der Opiumrausch einer blos subjectiven Erregung. Sehr übel hat
diese Theorie auf die deutsche Literatur influirt; was sich auf Genialität etwas
einbildete, schwelgte in dieser Schattenwelt der von ihrem Object abgelösten Gedan¬
ken — ein Kunststück, in dem sich die moderne Philosophie mit der von ihr so
lebhast bekämpften Belletristik brüderlich vereinte — und die eigentliche Poesie,
d. h. die schöne, anziehende Darstellung der Wirklichkeit, wurde Postsecretairen
und pensionirten Rittmeistern überlassen. Denn wo auf der einen Seite die Ari¬
stokratie der Bildung sich in dem Schwindel des Nihilismus verliert, wird die
Reaction sich um so lebhafter an die endliche, blos empirische Seite des Lebens
anklammern, an das Gemeine, was gestern war und morgen wiederkehrt. Wenn
Novalis, Tieck, Schlegel und ihre Epigonen in der Welt nichts weiter sahen als
romantische Waldeinsamkeiten und ästhetische Theecirkcl, so erschien die Muse
einem Clauren, Schilling und wie sie sonst heißen, in der Form eines rothnasi-
gen Stubenmädchens, das eine zu große Beschäftigung verhindert, sich zu wa¬
schen oder die Haare zu kämmen. Und so sehr man Recht hatte, sich vor dieser
Poesie des Alkovens die Nase zu stopfen, so war sie doch jenem impotenten
Traumwesen der Romantik gegenüber im Recht. Man erfuhr doch etwas: eiuer
gewann das große Loos, oder wurde Salzinspector, oder verheirathete sich, und
was sonst in der Misere des Lebens vorgeht. Oder wenn das Publikum sich
mehr nach dem hingezogen fühlte, was es nicht hatte, so eröffneten Tromlitz und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/212>, abgerufen am 22.07.2024.