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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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reißt. Davon ist die leichte Klarheit ruhiger Heiterkeit himmelweit verschieden.
Diese zeigt die Dinge theils, als gingen sie fremd vor einem vorüber, theils als
besitze man Stärke genug, sich nicht von ihnen bewegen zu lassen. Ans beide
Weisen geht die Masse der Ereignisse wie ein Schauspiel vorüber, und das ist
eigentlich die des Menschen würdigste Art, sie anzusehen, ohne lange bei ihnen
zu verweilen oder sich gar in sie zu Vertiefen, immer eingedenk, daß es ein ganz
anderes und würdigeres geistiges Gebiet gibt, in dem der Mensch wirklich sich
heimathlich zu fühlen bestimmt ist. Wenn man das Fremde so nimmt, und das¬
jenige, was Antheil der Freundschaft und Zuneigung nun in der That zur Wirk¬
lichkeit macht, die sich auf keine Weise mehr als Schauspiel behandeln läßt, nicht
mehr blos die Phantasie und den Gedanken in Anspruch nimmt, sondern warm
und lebendig das Herz ergreift, so behandelt man das Leben vielleicht ans die
unter allen zweckmäßigste Art." Der Mensch muß einen Glauben haben, sonst
ist er unfruchtbar, aber sein Glaube muß ihn nicht krank machen. "Der Ernst
und selbst der größte des Lebens ist etwas sehr Edles und Großes, aber es muß
nicht störend in das Wirken im Leben eingreifen. Er bekommt sonst etwas Bit¬
teres, das Leben selbst Verleidendes." Das Leben in seiner Reinheit ist ein
Gedicht. "Das Leben ist nicht gerade anders, als ein Schauspiel zu neh-
men. Die Dichtung ist vielmehr, so wie man sie nach der innern Wahrheit der
Dinge beurtheilt, viel ernster und höher als das Leben. Sie bringt einen
Schmerz und eine Lust hervor, die viel edlerer Natur siud als die wahren und
irdischen. Ich erfahre um in der That etwas ganz ähnliches mit allen Dingen
im Menschenleben. Sie wirken in ihrem Charakter auf mich, und die Lust an
ihrem rein ausgeprägten Charakter überwiegt meistentheils in mir ihr unmittel¬
bares Gefühl auf mich und das Verhältniß, in dem sie zu mir stehen."




Diese Resultate der ästhetisch-idealistischen Bildung treffen auf eine wunder¬
bare Weise mit der Weltanschauung zusammen, die ein einsamer Denker des 16.
Jahrhunderts dem Sturm und Drang der religiösen Wiedergeburt gegenüber sich
errungen hat. Ich meine Michel de Montaigne. Der Grundzug, der sein ganzes
Philosophisches Lehrgebäude -- wenn wir einer zusammenhängenden ethischen An¬
sicht diesen Namen beilegen wollen -- durchzieht, ist diese: das Glück des Men¬
schen besteht in seiner Freiheit; frei ist, wer durch keinen Gedanken und durch
kein Schicksal erschüttert wird. Eine solche Ataraxie wird erworben dnrch theore-
ti,che Vorsicht, die beständig im Zweifel bleibt, nicht um sich mit den Zweifeln zu
quälen, sondern um vou den Dingen unabhängig zu sein. Aber es ist doch ein
wesentlicher Unterschied. Montaigne macht die' Freiheit von allgemeinen Bestre¬
bungen zum Princip seines Lebens überhaupt, Humboldt zu dem seines Alters;
Jener ertödtet durch seinen Scepticismus die Wärme des Gemüths, dieser mä¬
ßigt sie nur durch fromme Schen.


reißt. Davon ist die leichte Klarheit ruhiger Heiterkeit himmelweit verschieden.
Diese zeigt die Dinge theils, als gingen sie fremd vor einem vorüber, theils als
besitze man Stärke genug, sich nicht von ihnen bewegen zu lassen. Ans beide
Weisen geht die Masse der Ereignisse wie ein Schauspiel vorüber, und das ist
eigentlich die des Menschen würdigste Art, sie anzusehen, ohne lange bei ihnen
zu verweilen oder sich gar in sie zu Vertiefen, immer eingedenk, daß es ein ganz
anderes und würdigeres geistiges Gebiet gibt, in dem der Mensch wirklich sich
heimathlich zu fühlen bestimmt ist. Wenn man das Fremde so nimmt, und das¬
jenige, was Antheil der Freundschaft und Zuneigung nun in der That zur Wirk¬
lichkeit macht, die sich auf keine Weise mehr als Schauspiel behandeln läßt, nicht
mehr blos die Phantasie und den Gedanken in Anspruch nimmt, sondern warm
und lebendig das Herz ergreift, so behandelt man das Leben vielleicht ans die
unter allen zweckmäßigste Art." Der Mensch muß einen Glauben haben, sonst
ist er unfruchtbar, aber sein Glaube muß ihn nicht krank machen. „Der Ernst
und selbst der größte des Lebens ist etwas sehr Edles und Großes, aber es muß
nicht störend in das Wirken im Leben eingreifen. Er bekommt sonst etwas Bit¬
teres, das Leben selbst Verleidendes." Das Leben in seiner Reinheit ist ein
Gedicht. „Das Leben ist nicht gerade anders, als ein Schauspiel zu neh-
men. Die Dichtung ist vielmehr, so wie man sie nach der innern Wahrheit der
Dinge beurtheilt, viel ernster und höher als das Leben. Sie bringt einen
Schmerz und eine Lust hervor, die viel edlerer Natur siud als die wahren und
irdischen. Ich erfahre um in der That etwas ganz ähnliches mit allen Dingen
im Menschenleben. Sie wirken in ihrem Charakter auf mich, und die Lust an
ihrem rein ausgeprägten Charakter überwiegt meistentheils in mir ihr unmittel¬
bares Gefühl auf mich und das Verhältniß, in dem sie zu mir stehen."




Diese Resultate der ästhetisch-idealistischen Bildung treffen auf eine wunder¬
bare Weise mit der Weltanschauung zusammen, die ein einsamer Denker des 16.
Jahrhunderts dem Sturm und Drang der religiösen Wiedergeburt gegenüber sich
errungen hat. Ich meine Michel de Montaigne. Der Grundzug, der sein ganzes
Philosophisches Lehrgebäude — wenn wir einer zusammenhängenden ethischen An¬
sicht diesen Namen beilegen wollen — durchzieht, ist diese: das Glück des Men¬
schen besteht in seiner Freiheit; frei ist, wer durch keinen Gedanken und durch
kein Schicksal erschüttert wird. Eine solche Ataraxie wird erworben dnrch theore-
ti,che Vorsicht, die beständig im Zweifel bleibt, nicht um sich mit den Zweifeln zu
quälen, sondern um vou den Dingen unabhängig zu sein. Aber es ist doch ein
wesentlicher Unterschied. Montaigne macht die' Freiheit von allgemeinen Bestre¬
bungen zum Princip seines Lebens überhaupt, Humboldt zu dem seines Alters;
Jener ertödtet durch seinen Scepticismus die Wärme des Gemüths, dieser mä¬
ßigt sie nur durch fromme Schen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/157>, abgerufen am 22.07.2024.