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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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zu wecken. Da eines Abends läßt sich der Gatte festlich ankleiden;
man fragt, was er beabsichtige. "Ich muß zum Concert -- es ist schon
spät -- acht Uhr vorüber -- man wartet - - eilt! eilt!" Bei diesen
Worten sehen sich die Diener bestürzt an, man verschließt das Halts,
der Gefangene tobt und wüthet, der alte Zustand mit seinem ganzen
Jammer kehrt wieder und ein heftigeres Fieber bricht aus. Der Freund
wird zu Rathe gezogen; man hat die Entdeckung gemacht, daß der
Wahnsinnige oft stundenlang sich damit unterhält, Partituren durchzu¬
blättern; dabei bemerkt man bald eine heitere, bald eine trübe Stim¬
mung, je nach dem Charakter des Musikstückes, an ihm; ja man hat
ihn sogar einmal weinend über Mendelsohn'S neuestem Opus ange¬
troffen, und man schließt daraus, daß er die Musik völlig in den Noten
genieße. Zene Anfälle wiederholen sich in kurzen Pausen, und so er¬
sinnt der Freund ein mögliches Heilmittel. Man läßt Wachsfiguren
anfertigen, ein Salon wird zum Concertsaal umgeschaffen, das stille
Musikchor findet dort Platz, Alles wird möglichst täuschend nachgeahmt
und als der Unglückliche wieder einmal begehrt, in das Concert zu
gehen, führt man ihn in den Salon. Der Freund wird durch ein Zeichen
rasch benachrichtigt und er und die Gattin warten im Corridor auf
den Ausgang. Der Wahnsinnige läßt die Symphonie von den Puppen
spielen und geberdet sich ganz wie im Opernhause -- nichts stört die
Täuschung; nur im dritten Satze bei der Stelle, wo das Pfeifen laut
geworden, sinkt er ohnmächtig nieder. Indessen sind die Nachwehen
des Unfalls geringer wie bei den frühern Ausbrüchen, er nimmt mehr
Theil an dem Leben, er fährt und reitet spazieren und erst uach vier
Wochen wiederholt sich derselbe Auftritt. Der Freund ist gleich bereit,
er verordnet die nöthigen Mittel, er sieht die Geliebte und verläßt sie
wieder, wenn das Fieber des Gatten im Abnehmen ist. Indessen be¬
merkt man nicht, wie die physische Kraft des Kranken mit dem Geiste
schwindet; man sucht sich zu überreden, daß er sich von Tag zu Tag
bessere, ja man beachtet uicht einmal, daß jene Zufälle in immer kür¬
zern Pausen eintreten und gefährlicher werden. Endlich wiederholen
sie sich schon in zehn Tagen und oas letzte Mal in achten. Dieses
letzte Mal überdauert der morsche Körper nicht, ein heftiges Fieber
verzehrt das noch übrige Mark und der Kranke fällt in einen lethargi¬
schen Schlaf, um nur auf wenige Augenblicke zu erwachen. Er sieht
die Gattin und den Freund an seinem Lager, er lächelt sanft und be¬
friedigt, als wäre er sich alles Vorgefallnen bewußt.....

Rascher, als ich es hier erzähle, hatte nur die schöne Frau diese


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zu wecken. Da eines Abends läßt sich der Gatte festlich ankleiden;
man fragt, was er beabsichtige. „Ich muß zum Concert — es ist schon
spät — acht Uhr vorüber — man wartet - - eilt! eilt!" Bei diesen
Worten sehen sich die Diener bestürzt an, man verschließt das Halts,
der Gefangene tobt und wüthet, der alte Zustand mit seinem ganzen
Jammer kehrt wieder und ein heftigeres Fieber bricht aus. Der Freund
wird zu Rathe gezogen; man hat die Entdeckung gemacht, daß der
Wahnsinnige oft stundenlang sich damit unterhält, Partituren durchzu¬
blättern; dabei bemerkt man bald eine heitere, bald eine trübe Stim¬
mung, je nach dem Charakter des Musikstückes, an ihm; ja man hat
ihn sogar einmal weinend über Mendelsohn'S neuestem Opus ange¬
troffen, und man schließt daraus, daß er die Musik völlig in den Noten
genieße. Zene Anfälle wiederholen sich in kurzen Pausen, und so er¬
sinnt der Freund ein mögliches Heilmittel. Man läßt Wachsfiguren
anfertigen, ein Salon wird zum Concertsaal umgeschaffen, das stille
Musikchor findet dort Platz, Alles wird möglichst täuschend nachgeahmt
und als der Unglückliche wieder einmal begehrt, in das Concert zu
gehen, führt man ihn in den Salon. Der Freund wird durch ein Zeichen
rasch benachrichtigt und er und die Gattin warten im Corridor auf
den Ausgang. Der Wahnsinnige läßt die Symphonie von den Puppen
spielen und geberdet sich ganz wie im Opernhause — nichts stört die
Täuschung; nur im dritten Satze bei der Stelle, wo das Pfeifen laut
geworden, sinkt er ohnmächtig nieder. Indessen sind die Nachwehen
des Unfalls geringer wie bei den frühern Ausbrüchen, er nimmt mehr
Theil an dem Leben, er fährt und reitet spazieren und erst uach vier
Wochen wiederholt sich derselbe Auftritt. Der Freund ist gleich bereit,
er verordnet die nöthigen Mittel, er sieht die Geliebte und verläßt sie
wieder, wenn das Fieber des Gatten im Abnehmen ist. Indessen be¬
merkt man nicht, wie die physische Kraft des Kranken mit dem Geiste
schwindet; man sucht sich zu überreden, daß er sich von Tag zu Tag
bessere, ja man beachtet uicht einmal, daß jene Zufälle in immer kür¬
zern Pausen eintreten und gefährlicher werden. Endlich wiederholen
sie sich schon in zehn Tagen und oas letzte Mal in achten. Dieses
letzte Mal überdauert der morsche Körper nicht, ein heftiges Fieber
verzehrt das noch übrige Mark und der Kranke fällt in einen lethargi¬
schen Schlaf, um nur auf wenige Augenblicke zu erwachen. Er sieht
die Gattin und den Freund an seinem Lager, er lächelt sanft und be¬
friedigt, als wäre er sich alles Vorgefallnen bewußt.....

Rascher, als ich es hier erzähle, hatte nur die schöne Frau diese


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[0375] zu wecken. Da eines Abends läßt sich der Gatte festlich ankleiden; man fragt, was er beabsichtige. „Ich muß zum Concert — es ist schon spät — acht Uhr vorüber — man wartet - - eilt! eilt!" Bei diesen Worten sehen sich die Diener bestürzt an, man verschließt das Halts, der Gefangene tobt und wüthet, der alte Zustand mit seinem ganzen Jammer kehrt wieder und ein heftigeres Fieber bricht aus. Der Freund wird zu Rathe gezogen; man hat die Entdeckung gemacht, daß der Wahnsinnige oft stundenlang sich damit unterhält, Partituren durchzu¬ blättern; dabei bemerkt man bald eine heitere, bald eine trübe Stim¬ mung, je nach dem Charakter des Musikstückes, an ihm; ja man hat ihn sogar einmal weinend über Mendelsohn'S neuestem Opus ange¬ troffen, und man schließt daraus, daß er die Musik völlig in den Noten genieße. Zene Anfälle wiederholen sich in kurzen Pausen, und so er¬ sinnt der Freund ein mögliches Heilmittel. Man läßt Wachsfiguren anfertigen, ein Salon wird zum Concertsaal umgeschaffen, das stille Musikchor findet dort Platz, Alles wird möglichst täuschend nachgeahmt und als der Unglückliche wieder einmal begehrt, in das Concert zu gehen, führt man ihn in den Salon. Der Freund wird durch ein Zeichen rasch benachrichtigt und er und die Gattin warten im Corridor auf den Ausgang. Der Wahnsinnige läßt die Symphonie von den Puppen spielen und geberdet sich ganz wie im Opernhause — nichts stört die Täuschung; nur im dritten Satze bei der Stelle, wo das Pfeifen laut geworden, sinkt er ohnmächtig nieder. Indessen sind die Nachwehen des Unfalls geringer wie bei den frühern Ausbrüchen, er nimmt mehr Theil an dem Leben, er fährt und reitet spazieren und erst uach vier Wochen wiederholt sich derselbe Auftritt. Der Freund ist gleich bereit, er verordnet die nöthigen Mittel, er sieht die Geliebte und verläßt sie wieder, wenn das Fieber des Gatten im Abnehmen ist. Indessen be¬ merkt man nicht, wie die physische Kraft des Kranken mit dem Geiste schwindet; man sucht sich zu überreden, daß er sich von Tag zu Tag bessere, ja man beachtet uicht einmal, daß jene Zufälle in immer kür¬ zern Pausen eintreten und gefährlicher werden. Endlich wiederholen sie sich schon in zehn Tagen und oas letzte Mal in achten. Dieses letzte Mal überdauert der morsche Körper nicht, ein heftiges Fieber verzehrt das noch übrige Mark und der Kranke fällt in einen lethargi¬ schen Schlaf, um nur auf wenige Augenblicke zu erwachen. Er sieht die Gattin und den Freund an seinem Lager, er lächelt sanft und be¬ friedigt, als wäre er sich alles Vorgefallnen bewußt..... Rascher, als ich es hier erzähle, hatte nur die schöne Frau diese 50*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/375>, abgerufen am 23.07.2024.