Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

teil Menge mich bewegt hatte, zog ich mich aus dem gefüllten Saale
in die rauchigen Zimmer zurück, wo sich die Familienväter in langer
Weile dehnten, tranken, rauchten, nach der Uhr sahen lind wieder tran¬
ken und rauchten. Da wurden Tagesneuigkeiten, die man zehn Mal
schon gehört, zum elften und zwölften Male wieder hervorgeholt. Die
alten Herren saßen und schwatzten an einer langen Tafel, ich abseits
in einem Winkel schwieg still. Da zog der hauptsächliche Wortführer
jenes Areopageö, ein freundlicher, munterer Mann, eine prachtvolle
Brillantcndose aus der Tasche und bot sie dem Nachbar. Dieser
naschte von dem Tabak und betrachtete dann aufmerksam die reiche
Kostbarkeit, und namentlich den Deckel, den das Portrait einer schonen
Frau zierte. Die Dose machte die Runde, bis endlich ungestüme Fra¬
gen laut wurden, woher das Prachtstück komme und wer das schöne
Frauenbild sei.

Das ist eine lange Geschichte, sagte der Eigenthümer, aber wenn
Sie hören wollen, meine Herren, ich bin bereit:

"Es war im vergangenen Sommer, ungefähr Ende August, als
mir eines Nachmittags mein Diener ein Billet bringt, mit dem Be¬
merken, es warte eine Herrschaft in einer reichen Equipage vor dem
Hause. Der Brief war englisch geschrieben und enthielt die Bitte,
ich möchte der Unterzeichneten einige Minuten Gehör schenken. Bald
darauf führte der Diener einen Herrn und eine Dame herein, Beide
sorgfältig, modisch, aber ohne Putz gekleidet; die Dame, dieselbe, die
Sie auf der Dose sahen, war in tiefer Trauer. Man setzte sich und
ich fragte begierig, ob meine ärztliche Hülfe in Anspruch genommen
werden solle. Alles in englischer Sprache, denn die Fremde war eine
russische Gräfin und des Deutschen nicht mächtig.

"Nicht Ihre Hülfe," erwiderte die Dame, "sondern ein Gutachten,
eine Entscheidung über eine Wette möchten wir von Ihnen erbitten;
nur zürnen Sie nicht, wenn ich etwas weit aushole. Ein junges,
älternloseS Mädchen ward von ihren Verwandten einem reichen, vor¬
nehmen Manne verheirathet. In Petersburg vollzog man die Trauung,
aber der Gemahl erhielt einen Posten bei der Gesandtschaft in London
und man reiste unverzüglich dorthin. Er ist still und gütig gegen die
Gattin, aber er liebt sie nicht, denn man kann nur Eins lieben, und
dieses Eine ist ihm die Musik. Er hat Hang zum Trüben und Me¬
lancholischen und dabei die fire Idee, ein großer Tonsetzer zu sein.
We>b und Pflicht wird vernachlässigt; das Weib erträgt es, der Ge¬
sandte aber klagt in Petersburg. Dn fällt es dem halb Wahnsinnige


Ävcnzb,,',c", IV. M

teil Menge mich bewegt hatte, zog ich mich aus dem gefüllten Saale
in die rauchigen Zimmer zurück, wo sich die Familienväter in langer
Weile dehnten, tranken, rauchten, nach der Uhr sahen lind wieder tran¬
ken und rauchten. Da wurden Tagesneuigkeiten, die man zehn Mal
schon gehört, zum elften und zwölften Male wieder hervorgeholt. Die
alten Herren saßen und schwatzten an einer langen Tafel, ich abseits
in einem Winkel schwieg still. Da zog der hauptsächliche Wortführer
jenes Areopageö, ein freundlicher, munterer Mann, eine prachtvolle
Brillantcndose aus der Tasche und bot sie dem Nachbar. Dieser
naschte von dem Tabak und betrachtete dann aufmerksam die reiche
Kostbarkeit, und namentlich den Deckel, den das Portrait einer schonen
Frau zierte. Die Dose machte die Runde, bis endlich ungestüme Fra¬
gen laut wurden, woher das Prachtstück komme und wer das schöne
Frauenbild sei.

Das ist eine lange Geschichte, sagte der Eigenthümer, aber wenn
Sie hören wollen, meine Herren, ich bin bereit:

„Es war im vergangenen Sommer, ungefähr Ende August, als
mir eines Nachmittags mein Diener ein Billet bringt, mit dem Be¬
merken, es warte eine Herrschaft in einer reichen Equipage vor dem
Hause. Der Brief war englisch geschrieben und enthielt die Bitte,
ich möchte der Unterzeichneten einige Minuten Gehör schenken. Bald
darauf führte der Diener einen Herrn und eine Dame herein, Beide
sorgfältig, modisch, aber ohne Putz gekleidet; die Dame, dieselbe, die
Sie auf der Dose sahen, war in tiefer Trauer. Man setzte sich und
ich fragte begierig, ob meine ärztliche Hülfe in Anspruch genommen
werden solle. Alles in englischer Sprache, denn die Fremde war eine
russische Gräfin und des Deutschen nicht mächtig.

„Nicht Ihre Hülfe," erwiderte die Dame, „sondern ein Gutachten,
eine Entscheidung über eine Wette möchten wir von Ihnen erbitten;
nur zürnen Sie nicht, wenn ich etwas weit aushole. Ein junges,
älternloseS Mädchen ward von ihren Verwandten einem reichen, vor¬
nehmen Manne verheirathet. In Petersburg vollzog man die Trauung,
aber der Gemahl erhielt einen Posten bei der Gesandtschaft in London
und man reiste unverzüglich dorthin. Er ist still und gütig gegen die
Gattin, aber er liebt sie nicht, denn man kann nur Eins lieben, und
dieses Eine ist ihm die Musik. Er hat Hang zum Trüben und Me¬
lancholischen und dabei die fire Idee, ein großer Tonsetzer zu sein.
We>b und Pflicht wird vernachlässigt; das Weib erträgt es, der Ge¬
sandte aber klagt in Petersburg. Dn fällt es dem halb Wahnsinnige


Ävcnzb,,',c», IV. M
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0373" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/183955"/>
            <p xml:id="ID_1117" prev="#ID_1116"> teil Menge mich bewegt hatte, zog ich mich aus dem gefüllten Saale<lb/>
in die rauchigen Zimmer zurück, wo sich die Familienväter in langer<lb/>
Weile dehnten, tranken, rauchten, nach der Uhr sahen lind wieder tran¬<lb/>
ken und rauchten. Da wurden Tagesneuigkeiten, die man zehn Mal<lb/>
schon gehört, zum elften und zwölften Male wieder hervorgeholt. Die<lb/>
alten Herren saßen und schwatzten an einer langen Tafel, ich abseits<lb/>
in einem Winkel schwieg still. Da zog der hauptsächliche Wortführer<lb/>
jenes Areopageö, ein freundlicher, munterer Mann, eine prachtvolle<lb/>
Brillantcndose aus der Tasche und bot sie dem Nachbar. Dieser<lb/>
naschte von dem Tabak und betrachtete dann aufmerksam die reiche<lb/>
Kostbarkeit, und namentlich den Deckel, den das Portrait einer schonen<lb/>
Frau zierte. Die Dose machte die Runde, bis endlich ungestüme Fra¬<lb/>
gen laut wurden, woher das Prachtstück komme und wer das schöne<lb/>
Frauenbild sei.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1118"> Das ist eine lange Geschichte, sagte der Eigenthümer, aber wenn<lb/>
Sie hören wollen, meine Herren, ich bin bereit:</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1119"> &#x201E;Es war im vergangenen Sommer, ungefähr Ende August, als<lb/>
mir eines Nachmittags mein Diener ein Billet bringt, mit dem Be¬<lb/>
merken, es warte eine Herrschaft in einer reichen Equipage vor dem<lb/>
Hause. Der Brief war englisch geschrieben und enthielt die Bitte,<lb/>
ich möchte der Unterzeichneten einige Minuten Gehör schenken. Bald<lb/>
darauf führte der Diener einen Herrn und eine Dame herein, Beide<lb/>
sorgfältig, modisch, aber ohne Putz gekleidet; die Dame, dieselbe, die<lb/>
Sie auf der Dose sahen, war in tiefer Trauer. Man setzte sich und<lb/>
ich fragte begierig, ob meine ärztliche Hülfe in Anspruch genommen<lb/>
werden solle. Alles in englischer Sprache, denn die Fremde war eine<lb/>
russische Gräfin und des Deutschen nicht mächtig.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1120" next="#ID_1121"> &#x201E;Nicht Ihre Hülfe," erwiderte die Dame, &#x201E;sondern ein Gutachten,<lb/>
eine Entscheidung über eine Wette möchten wir von Ihnen erbitten;<lb/>
nur zürnen Sie nicht, wenn ich etwas weit aushole. Ein junges,<lb/>
älternloseS Mädchen ward von ihren Verwandten einem reichen, vor¬<lb/>
nehmen Manne verheirathet. In Petersburg vollzog man die Trauung,<lb/>
aber der Gemahl erhielt einen Posten bei der Gesandtschaft in London<lb/>
und man reiste unverzüglich dorthin. Er ist still und gütig gegen die<lb/>
Gattin, aber er liebt sie nicht, denn man kann nur Eins lieben, und<lb/>
dieses Eine ist ihm die Musik. Er hat Hang zum Trüben und Me¬<lb/>
lancholischen und dabei die fire Idee, ein großer Tonsetzer zu sein.<lb/>
We&gt;b und Pflicht wird vernachlässigt; das Weib erträgt es, der Ge¬<lb/>
sandte aber klagt in Petersburg. Dn fällt es dem halb Wahnsinnige</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Ävcnzb,,',c», IV. M</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0373] teil Menge mich bewegt hatte, zog ich mich aus dem gefüllten Saale in die rauchigen Zimmer zurück, wo sich die Familienväter in langer Weile dehnten, tranken, rauchten, nach der Uhr sahen lind wieder tran¬ ken und rauchten. Da wurden Tagesneuigkeiten, die man zehn Mal schon gehört, zum elften und zwölften Male wieder hervorgeholt. Die alten Herren saßen und schwatzten an einer langen Tafel, ich abseits in einem Winkel schwieg still. Da zog der hauptsächliche Wortführer jenes Areopageö, ein freundlicher, munterer Mann, eine prachtvolle Brillantcndose aus der Tasche und bot sie dem Nachbar. Dieser naschte von dem Tabak und betrachtete dann aufmerksam die reiche Kostbarkeit, und namentlich den Deckel, den das Portrait einer schonen Frau zierte. Die Dose machte die Runde, bis endlich ungestüme Fra¬ gen laut wurden, woher das Prachtstück komme und wer das schöne Frauenbild sei. Das ist eine lange Geschichte, sagte der Eigenthümer, aber wenn Sie hören wollen, meine Herren, ich bin bereit: „Es war im vergangenen Sommer, ungefähr Ende August, als mir eines Nachmittags mein Diener ein Billet bringt, mit dem Be¬ merken, es warte eine Herrschaft in einer reichen Equipage vor dem Hause. Der Brief war englisch geschrieben und enthielt die Bitte, ich möchte der Unterzeichneten einige Minuten Gehör schenken. Bald darauf führte der Diener einen Herrn und eine Dame herein, Beide sorgfältig, modisch, aber ohne Putz gekleidet; die Dame, dieselbe, die Sie auf der Dose sahen, war in tiefer Trauer. Man setzte sich und ich fragte begierig, ob meine ärztliche Hülfe in Anspruch genommen werden solle. Alles in englischer Sprache, denn die Fremde war eine russische Gräfin und des Deutschen nicht mächtig. „Nicht Ihre Hülfe," erwiderte die Dame, „sondern ein Gutachten, eine Entscheidung über eine Wette möchten wir von Ihnen erbitten; nur zürnen Sie nicht, wenn ich etwas weit aushole. Ein junges, älternloseS Mädchen ward von ihren Verwandten einem reichen, vor¬ nehmen Manne verheirathet. In Petersburg vollzog man die Trauung, aber der Gemahl erhielt einen Posten bei der Gesandtschaft in London und man reiste unverzüglich dorthin. Er ist still und gütig gegen die Gattin, aber er liebt sie nicht, denn man kann nur Eins lieben, und dieses Eine ist ihm die Musik. Er hat Hang zum Trüben und Me¬ lancholischen und dabei die fire Idee, ein großer Tonsetzer zu sein. We>b und Pflicht wird vernachlässigt; das Weib erträgt es, der Ge¬ sandte aber klagt in Petersburg. Dn fällt es dem halb Wahnsinnige Ävcnzb,,',c», IV. M

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/373
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/373>, abgerufen am 03.07.2024.