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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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zuthat ein Uebriges thun wollen. Der Leser wählt aber nicht also,
sondern er sagt: Hier sind Flügel angeheftet, das Ganze ist zu einem
Vogel gemacht worden, und doch sind mehrere gewöhnliche Beine an¬
gebracht! Die Reinheit der Form wird zwar auch einige Male durch
journalistische Wendungen, wie "Entweder-Oder-Zeitung" getrübt, aber
das Heitere und satyrische der Nebenfiguren und Nebcnscenen, welche
sich zum Vortheil der Lectüre ausbreiten, ist sehr gut geschrieben.

Auch die vierte Erzählung "die Niccarees" von Gerstäcker, nöthigt
zu einer weitern Erklärung, daß mit Bilden und Einhalten der Form
nicht Alles gethan sei. Die Form muß auch voll sein. Gerstäcker's
Talent bildet sich sehr rasch, aber die Naschheit ist zugleich seine Ge¬
fahr. Drang und Spannung sind der Erzählung gewiß nöthig, aber
sie dürfen nichts Aeußerliches und Mechanisches verbleiben, so daß
man nur athemlos darauf zustürzt lind nie mehr das Verlangen hat,
darauf zurückzukommen, nachdem man sie einmal überwunden hat. Da¬
gegen hat die deutsche Art, welche allerdings meist aus Mangel an
Talent und Thatkraft entspringt, dagegen hat sie Recht, indem sie die
Breite der leeren Spitze vorzieht, indem sie gedanklichen Inhalt immer
noch höher hält als leeren Reiz. Inhalt der Charaktere und Hand¬
lung zu begründen und mit diesem Gepäck die interessanten Wege des
Erzählens zu suchen, das ist ein Motto, welches einem frischen Muthe
und Talente, wie Gerstäcker's, zu tüchtigen Erfolgen dienen kann.

In der vorliegenden Erzählung hat er ein starkes Thema verpufft,
weil er nur skizzirt und sich nur auf deu Drang des Ereignisses ver¬
lassen hat. Das Thema ist die Sklaverei in Amerika, welche durch
einen Kaufbrief auch eine freie Indianerin umschlingen und erdrosseln
kann. Das'Thema wird freilich immer etwas Mißliches behalten für
den Roman, wie stark es auf den ersten Anblick erscheinen mag. Die
äußerlich nach den Landesgesetzen berechtigte Sklaverei ist etwas so
Gröbliches, und Rohes und bietet so freche Gegensätze, daß sie für die
Kunst nicht eben ein günstiger Vorwurf ist. Und die erheblicheren
Rechte über einen Sklaven, wie hier durch falschen Kaufbrief, bieten
noch schneidendere, die Menschlichkeit noch tiefer zerrende Verhältnisse.
Zu schrecken und zu quälen ist ja nicht Ziel der Kunst, wenn der
Schrecken unzertrennlich ist von der Qual, und wenn man nicht zu
blos philanthropischen Zwecken die Kunst hergeben will. Viel ergie¬
biger ist es, der Sklaverei in europäischen Verhältnissen nachzugehen
auf den feinen Wendungen und unbetretener Wegen der Erzählung,
welche in den Seelenzustünden ihre Motive holt zur Geltung. Hier


zuthat ein Uebriges thun wollen. Der Leser wählt aber nicht also,
sondern er sagt: Hier sind Flügel angeheftet, das Ganze ist zu einem
Vogel gemacht worden, und doch sind mehrere gewöhnliche Beine an¬
gebracht! Die Reinheit der Form wird zwar auch einige Male durch
journalistische Wendungen, wie „Entweder-Oder-Zeitung" getrübt, aber
das Heitere und satyrische der Nebenfiguren und Nebcnscenen, welche
sich zum Vortheil der Lectüre ausbreiten, ist sehr gut geschrieben.

Auch die vierte Erzählung „die Niccarees" von Gerstäcker, nöthigt
zu einer weitern Erklärung, daß mit Bilden und Einhalten der Form
nicht Alles gethan sei. Die Form muß auch voll sein. Gerstäcker's
Talent bildet sich sehr rasch, aber die Naschheit ist zugleich seine Ge¬
fahr. Drang und Spannung sind der Erzählung gewiß nöthig, aber
sie dürfen nichts Aeußerliches und Mechanisches verbleiben, so daß
man nur athemlos darauf zustürzt lind nie mehr das Verlangen hat,
darauf zurückzukommen, nachdem man sie einmal überwunden hat. Da¬
gegen hat die deutsche Art, welche allerdings meist aus Mangel an
Talent und Thatkraft entspringt, dagegen hat sie Recht, indem sie die
Breite der leeren Spitze vorzieht, indem sie gedanklichen Inhalt immer
noch höher hält als leeren Reiz. Inhalt der Charaktere und Hand¬
lung zu begründen und mit diesem Gepäck die interessanten Wege des
Erzählens zu suchen, das ist ein Motto, welches einem frischen Muthe
und Talente, wie Gerstäcker's, zu tüchtigen Erfolgen dienen kann.

In der vorliegenden Erzählung hat er ein starkes Thema verpufft,
weil er nur skizzirt und sich nur auf deu Drang des Ereignisses ver¬
lassen hat. Das Thema ist die Sklaverei in Amerika, welche durch
einen Kaufbrief auch eine freie Indianerin umschlingen und erdrosseln
kann. Das'Thema wird freilich immer etwas Mißliches behalten für
den Roman, wie stark es auf den ersten Anblick erscheinen mag. Die
äußerlich nach den Landesgesetzen berechtigte Sklaverei ist etwas so
Gröbliches, und Rohes und bietet so freche Gegensätze, daß sie für die
Kunst nicht eben ein günstiger Vorwurf ist. Und die erheblicheren
Rechte über einen Sklaven, wie hier durch falschen Kaufbrief, bieten
noch schneidendere, die Menschlichkeit noch tiefer zerrende Verhältnisse.
Zu schrecken und zu quälen ist ja nicht Ziel der Kunst, wenn der
Schrecken unzertrennlich ist von der Qual, und wenn man nicht zu
blos philanthropischen Zwecken die Kunst hergeben will. Viel ergie¬
biger ist es, der Sklaverei in europäischen Verhältnissen nachzugehen
auf den feinen Wendungen und unbetretener Wegen der Erzählung,
welche in den Seelenzustünden ihre Motive holt zur Geltung. Hier


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[0348] zuthat ein Uebriges thun wollen. Der Leser wählt aber nicht also, sondern er sagt: Hier sind Flügel angeheftet, das Ganze ist zu einem Vogel gemacht worden, und doch sind mehrere gewöhnliche Beine an¬ gebracht! Die Reinheit der Form wird zwar auch einige Male durch journalistische Wendungen, wie „Entweder-Oder-Zeitung" getrübt, aber das Heitere und satyrische der Nebenfiguren und Nebcnscenen, welche sich zum Vortheil der Lectüre ausbreiten, ist sehr gut geschrieben. Auch die vierte Erzählung „die Niccarees" von Gerstäcker, nöthigt zu einer weitern Erklärung, daß mit Bilden und Einhalten der Form nicht Alles gethan sei. Die Form muß auch voll sein. Gerstäcker's Talent bildet sich sehr rasch, aber die Naschheit ist zugleich seine Ge¬ fahr. Drang und Spannung sind der Erzählung gewiß nöthig, aber sie dürfen nichts Aeußerliches und Mechanisches verbleiben, so daß man nur athemlos darauf zustürzt lind nie mehr das Verlangen hat, darauf zurückzukommen, nachdem man sie einmal überwunden hat. Da¬ gegen hat die deutsche Art, welche allerdings meist aus Mangel an Talent und Thatkraft entspringt, dagegen hat sie Recht, indem sie die Breite der leeren Spitze vorzieht, indem sie gedanklichen Inhalt immer noch höher hält als leeren Reiz. Inhalt der Charaktere und Hand¬ lung zu begründen und mit diesem Gepäck die interessanten Wege des Erzählens zu suchen, das ist ein Motto, welches einem frischen Muthe und Talente, wie Gerstäcker's, zu tüchtigen Erfolgen dienen kann. In der vorliegenden Erzählung hat er ein starkes Thema verpufft, weil er nur skizzirt und sich nur auf deu Drang des Ereignisses ver¬ lassen hat. Das Thema ist die Sklaverei in Amerika, welche durch einen Kaufbrief auch eine freie Indianerin umschlingen und erdrosseln kann. Das'Thema wird freilich immer etwas Mißliches behalten für den Roman, wie stark es auf den ersten Anblick erscheinen mag. Die äußerlich nach den Landesgesetzen berechtigte Sklaverei ist etwas so Gröbliches, und Rohes und bietet so freche Gegensätze, daß sie für die Kunst nicht eben ein günstiger Vorwurf ist. Und die erheblicheren Rechte über einen Sklaven, wie hier durch falschen Kaufbrief, bieten noch schneidendere, die Menschlichkeit noch tiefer zerrende Verhältnisse. Zu schrecken und zu quälen ist ja nicht Ziel der Kunst, wenn der Schrecken unzertrennlich ist von der Qual, und wenn man nicht zu blos philanthropischen Zwecken die Kunst hergeben will. Viel ergie¬ biger ist es, der Sklaverei in europäischen Verhältnissen nachzugehen auf den feinen Wendungen und unbetretener Wegen der Erzählung, welche in den Seelenzustünden ihre Motive holt zur Geltung. Hier

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/348>, abgerufen am 23.07.2024.