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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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eine arme Hauslaubpflanze ausrupfte, die zwischen dem verwitterten
Mörtel herausgewachsen war.

"Sie scheinen die Meißner Berge schon zu kennen, da Sie gar
kein Auge dafür haben", sprach meine Begleiterin nach der langen
Pause, die ihr meine am Bodett haftende Verlegenheit ließ. "Wollen
wir nicht weiter gehen?"

"O ja -- in den Dom. Er steht offen, wie ich sehe, und auch
auf den Thurm hinauf müssen wir."

Aus dem Innern quoll tiefer Orgelklang. Der Dom rührt noch
aus der Zeit her, wo der frömmste Gottesglaube gothische Tempel
schuf, deren erhabene Formen wir kaum nachzuahmen, nicht zu über¬
treffen vermögen. Auch der Afradom von Meißen ist ein zu Stein
gewordenes seliges Gebet von Millionen, und die Andacht von Jahr¬
hunderten schwebt in und um ihn. Wir traten ein und schritten lang¬
sam und feierlich bewegt bis zum Hochaltar. Jenseits desselben führt
die Treppe auf den Thurm empor. Ich war wohlvertraut mit ihren
Windungen, und von den Orgeltönen umwogt, folgten wir der Stiege,
abermals Arm um Arm geschlungen. Empor, empor, bis wir auf dem
Austritte standen, wo sich das Thal mit seinen Gärten, der Strom
mit seinen Schiffen vor unsern Blicken aufthat.

Anfangs waren wir still, dann war es etwas Schwärmerisches
oder Heiliges, was wir sprachen. Wie es dahin gedieh, weiß ich nicht
mehr, aber ich muß Julien um einen Kuß gebeten haben, denn sie sah
mich darauf verwundert, aber nicht- zornig an.

"Einen Kuß -- und hier auf der Höhe vor aller Welt? Aber
grade darum -- das heißt, wenn Sie nur versprechen, den Ermahnun¬
gen Ihrer guten Mutter mehr gehorchen zu wollen, als den Anwei¬
sungen und dem Beispiele unseres Begleiters -- küß' ich Sie."

Für einen Kuß von ihr hätt' ich Alles zugesagt und auf Erfor¬
dern zugeschworen.

"Wie gut Sie sind, Julie!" jauchzte ich. Ich umarmte sie und
wir küßten uns ganz langsam und wohlbedächtig. Auf dem Herab¬
wege erinnerte ich jedoch, daß eS mir scheine, als ob das Fräulein
keine ganz gute Meinung über Pcrglow hege, worin sie im größten
Unrecht sei.

"Ich meine nur, Sie sollen ihn nicht auf Kosten Ihrer Zukunft
bewundern", antwortete Julie. Seit wir uns im Namen meiner Mut¬
ter geküßt hatten, kam sie mir wie meine Schwester vor, und ich dachte
ihrer Rede nach, als wär's ein Orakelspruch gewesen.


eine arme Hauslaubpflanze ausrupfte, die zwischen dem verwitterten
Mörtel herausgewachsen war.

„Sie scheinen die Meißner Berge schon zu kennen, da Sie gar
kein Auge dafür haben", sprach meine Begleiterin nach der langen
Pause, die ihr meine am Bodett haftende Verlegenheit ließ. „Wollen
wir nicht weiter gehen?"

„O ja — in den Dom. Er steht offen, wie ich sehe, und auch
auf den Thurm hinauf müssen wir."

Aus dem Innern quoll tiefer Orgelklang. Der Dom rührt noch
aus der Zeit her, wo der frömmste Gottesglaube gothische Tempel
schuf, deren erhabene Formen wir kaum nachzuahmen, nicht zu über¬
treffen vermögen. Auch der Afradom von Meißen ist ein zu Stein
gewordenes seliges Gebet von Millionen, und die Andacht von Jahr¬
hunderten schwebt in und um ihn. Wir traten ein und schritten lang¬
sam und feierlich bewegt bis zum Hochaltar. Jenseits desselben führt
die Treppe auf den Thurm empor. Ich war wohlvertraut mit ihren
Windungen, und von den Orgeltönen umwogt, folgten wir der Stiege,
abermals Arm um Arm geschlungen. Empor, empor, bis wir auf dem
Austritte standen, wo sich das Thal mit seinen Gärten, der Strom
mit seinen Schiffen vor unsern Blicken aufthat.

Anfangs waren wir still, dann war es etwas Schwärmerisches
oder Heiliges, was wir sprachen. Wie es dahin gedieh, weiß ich nicht
mehr, aber ich muß Julien um einen Kuß gebeten haben, denn sie sah
mich darauf verwundert, aber nicht- zornig an.

„Einen Kuß — und hier auf der Höhe vor aller Welt? Aber
grade darum — das heißt, wenn Sie nur versprechen, den Ermahnun¬
gen Ihrer guten Mutter mehr gehorchen zu wollen, als den Anwei¬
sungen und dem Beispiele unseres Begleiters — küß' ich Sie."

Für einen Kuß von ihr hätt' ich Alles zugesagt und auf Erfor¬
dern zugeschworen.

„Wie gut Sie sind, Julie!" jauchzte ich. Ich umarmte sie und
wir küßten uns ganz langsam und wohlbedächtig. Auf dem Herab¬
wege erinnerte ich jedoch, daß eS mir scheine, als ob das Fräulein
keine ganz gute Meinung über Pcrglow hege, worin sie im größten
Unrecht sei.

„Ich meine nur, Sie sollen ihn nicht auf Kosten Ihrer Zukunft
bewundern", antwortete Julie. Seit wir uns im Namen meiner Mut¬
ter geküßt hatten, kam sie mir wie meine Schwester vor, und ich dachte
ihrer Rede nach, als wär's ein Orakelspruch gewesen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/325>, abgerufen am 23.07.2024.