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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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IV.
Die Singakademie in Berlin.

Es wird Ihnen und Ihren musikalischen Mitbürgern nicht ohne
Interesse sein, von einer executirten Aufführung der Kompositionen des
Fürsten Nadziwill zu Goethe's Faust in den Räumen der Singakademie
zu vernehmen, da Sie ja in Ihrem kunstsinnigen Leipzig den Meister
besitzen und warm verehren, das unter den jetzigen Umstanden unserem
berühmten Gesangsinstitut seinen frühern Ruhm allein vindiciren könnte.
Es ist in der That befremdend, daß Berlin die einzige Stelle, die es
dem Schöpfer des Paulus und Sommernachtstraumes mit würdigem
Stolze anbieten durfte, ihm nicht nur vorenthielt, sondern auch Leitern
fernerhin übergab, die selbst die geringen Aenderungen, welche durch Men¬
delssohn's Einfluß momentan hervorgerufen wurden, wieder einschlummern
ließen. Gewisse Animalia verfallen nach dem Willen des Weltschöpfers
um diese Zeit in einen höchst angenehmen und nützlichen Winterschlaf.
Leider wahrt dieser Austand bei unserer berühmten Akavemie das ganze
Jahr hindurch und macht sich den Naturkundigen nur in den fünf Win¬
termonaten durch fünf lethargische Lcbensandeutungcn besonders interessant,
die man in Berlin mit dem Kunstausdruck "Abonnementsconcerte der
Singakademie" bezeichnet hat. Sie wissen, daß dieses Institut wesent¬
lich in das geheimste Leben der vornehmern Berliner Familien eingreift.
Wie Ibykus mit geheimnißvollen Schauer in Poseidons Fichtenhain tritt,
so führt die Berlinerin ihre Töchter in diese heiligen Hallen, in denen
sie selbst einst ihre Stimme erschallen ließ und ach! vielleicht auch noch
erschallen laßt. So hat sich naturgemäß die Akademie in zwei Legionen
getheilt: in die große Akademie, d. h. in jene Prätorianer, die allein
bei Aufführungen mitwirken und sich durch Reife der Jahre wie der
Kunstbildung auszeichnen, und eine sogenannte kleine Akademie, die,
wie ich Ihnen unter dem Siegel des Briefgeheimnisses mittheile, sich
selbst mit dem zarten und vielversprechenden Namen "Küchlein" belegt
hat und bei gereiften Jahren die Reihen der ersten Classe rekrutirt. Die¬
ses jüngere hoffnungsvolle Geflügel gewöhnt sich in besondern Zusammen¬
künften die Untugend des Detonirens ab und ernährt eine nicht unbe¬
trächtliche Anzahl hiesiger Gesanglehrer. Hieraus wird ersichtlich, welch
eine Menge Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, Liebhaber und Gelieb¬
ten bei den Uebungen und Aufführungen der Sänger Spannung und
Theilnahme zeigen. Daraus entsteht dann aber für den armen Vorstand
die nicht kleine Verlegenheit, an Tagen, wie der gestrige, wo ein entschei¬
dender Schlag geführt werden soll: Raum zu schassen. Wahrend andere
Concertgeber, wie z. B. der arme Nagiller, der sein Concert am Mon¬
tag fast verödet sah, nicht wissen, wie sie die großen Säle mit Musikern
und Zuhörern bevölkern sollen, hat sich die Direction gezwungen gesehen,
eine Anzahl Damen der ersten Classe (schrecklich, aber wahr!) von der
Ausführung auszuschließen. Selbst Billets zum Raum der Zuhörer sol¬
len nicht, wie billig, verabfolgt sein. Wenn der Vorstand auch vollkom-


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IV.
Die Singakademie in Berlin.

Es wird Ihnen und Ihren musikalischen Mitbürgern nicht ohne
Interesse sein, von einer executirten Aufführung der Kompositionen des
Fürsten Nadziwill zu Goethe's Faust in den Räumen der Singakademie
zu vernehmen, da Sie ja in Ihrem kunstsinnigen Leipzig den Meister
besitzen und warm verehren, das unter den jetzigen Umstanden unserem
berühmten Gesangsinstitut seinen frühern Ruhm allein vindiciren könnte.
Es ist in der That befremdend, daß Berlin die einzige Stelle, die es
dem Schöpfer des Paulus und Sommernachtstraumes mit würdigem
Stolze anbieten durfte, ihm nicht nur vorenthielt, sondern auch Leitern
fernerhin übergab, die selbst die geringen Aenderungen, welche durch Men¬
delssohn's Einfluß momentan hervorgerufen wurden, wieder einschlummern
ließen. Gewisse Animalia verfallen nach dem Willen des Weltschöpfers
um diese Zeit in einen höchst angenehmen und nützlichen Winterschlaf.
Leider wahrt dieser Austand bei unserer berühmten Akavemie das ganze
Jahr hindurch und macht sich den Naturkundigen nur in den fünf Win¬
termonaten durch fünf lethargische Lcbensandeutungcn besonders interessant,
die man in Berlin mit dem Kunstausdruck „Abonnementsconcerte der
Singakademie" bezeichnet hat. Sie wissen, daß dieses Institut wesent¬
lich in das geheimste Leben der vornehmern Berliner Familien eingreift.
Wie Ibykus mit geheimnißvollen Schauer in Poseidons Fichtenhain tritt,
so führt die Berlinerin ihre Töchter in diese heiligen Hallen, in denen
sie selbst einst ihre Stimme erschallen ließ und ach! vielleicht auch noch
erschallen laßt. So hat sich naturgemäß die Akademie in zwei Legionen
getheilt: in die große Akademie, d. h. in jene Prätorianer, die allein
bei Aufführungen mitwirken und sich durch Reife der Jahre wie der
Kunstbildung auszeichnen, und eine sogenannte kleine Akademie, die,
wie ich Ihnen unter dem Siegel des Briefgeheimnisses mittheile, sich
selbst mit dem zarten und vielversprechenden Namen „Küchlein" belegt
hat und bei gereiften Jahren die Reihen der ersten Classe rekrutirt. Die¬
ses jüngere hoffnungsvolle Geflügel gewöhnt sich in besondern Zusammen¬
künften die Untugend des Detonirens ab und ernährt eine nicht unbe¬
trächtliche Anzahl hiesiger Gesanglehrer. Hieraus wird ersichtlich, welch
eine Menge Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, Liebhaber und Gelieb¬
ten bei den Uebungen und Aufführungen der Sänger Spannung und
Theilnahme zeigen. Daraus entsteht dann aber für den armen Vorstand
die nicht kleine Verlegenheit, an Tagen, wie der gestrige, wo ein entschei¬
dender Schlag geführt werden soll: Raum zu schassen. Wahrend andere
Concertgeber, wie z. B. der arme Nagiller, der sein Concert am Mon¬
tag fast verödet sah, nicht wissen, wie sie die großen Säle mit Musikern
und Zuhörern bevölkern sollen, hat sich die Direction gezwungen gesehen,
eine Anzahl Damen der ersten Classe (schrecklich, aber wahr!) von der
Ausführung auszuschließen. Selbst Billets zum Raum der Zuhörer sol¬
len nicht, wie billig, verabfolgt sein. Wenn der Vorstand auch vollkom-


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[0223] IV. Die Singakademie in Berlin. Es wird Ihnen und Ihren musikalischen Mitbürgern nicht ohne Interesse sein, von einer executirten Aufführung der Kompositionen des Fürsten Nadziwill zu Goethe's Faust in den Räumen der Singakademie zu vernehmen, da Sie ja in Ihrem kunstsinnigen Leipzig den Meister besitzen und warm verehren, das unter den jetzigen Umstanden unserem berühmten Gesangsinstitut seinen frühern Ruhm allein vindiciren könnte. Es ist in der That befremdend, daß Berlin die einzige Stelle, die es dem Schöpfer des Paulus und Sommernachtstraumes mit würdigem Stolze anbieten durfte, ihm nicht nur vorenthielt, sondern auch Leitern fernerhin übergab, die selbst die geringen Aenderungen, welche durch Men¬ delssohn's Einfluß momentan hervorgerufen wurden, wieder einschlummern ließen. Gewisse Animalia verfallen nach dem Willen des Weltschöpfers um diese Zeit in einen höchst angenehmen und nützlichen Winterschlaf. Leider wahrt dieser Austand bei unserer berühmten Akavemie das ganze Jahr hindurch und macht sich den Naturkundigen nur in den fünf Win¬ termonaten durch fünf lethargische Lcbensandeutungcn besonders interessant, die man in Berlin mit dem Kunstausdruck „Abonnementsconcerte der Singakademie" bezeichnet hat. Sie wissen, daß dieses Institut wesent¬ lich in das geheimste Leben der vornehmern Berliner Familien eingreift. Wie Ibykus mit geheimnißvollen Schauer in Poseidons Fichtenhain tritt, so führt die Berlinerin ihre Töchter in diese heiligen Hallen, in denen sie selbst einst ihre Stimme erschallen ließ und ach! vielleicht auch noch erschallen laßt. So hat sich naturgemäß die Akademie in zwei Legionen getheilt: in die große Akademie, d. h. in jene Prätorianer, die allein bei Aufführungen mitwirken und sich durch Reife der Jahre wie der Kunstbildung auszeichnen, und eine sogenannte kleine Akademie, die, wie ich Ihnen unter dem Siegel des Briefgeheimnisses mittheile, sich selbst mit dem zarten und vielversprechenden Namen „Küchlein" belegt hat und bei gereiften Jahren die Reihen der ersten Classe rekrutirt. Die¬ ses jüngere hoffnungsvolle Geflügel gewöhnt sich in besondern Zusammen¬ künften die Untugend des Detonirens ab und ernährt eine nicht unbe¬ trächtliche Anzahl hiesiger Gesanglehrer. Hieraus wird ersichtlich, welch eine Menge Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, Liebhaber und Gelieb¬ ten bei den Uebungen und Aufführungen der Sänger Spannung und Theilnahme zeigen. Daraus entsteht dann aber für den armen Vorstand die nicht kleine Verlegenheit, an Tagen, wie der gestrige, wo ein entschei¬ dender Schlag geführt werden soll: Raum zu schassen. Wahrend andere Concertgeber, wie z. B. der arme Nagiller, der sein Concert am Mon¬ tag fast verödet sah, nicht wissen, wie sie die großen Säle mit Musikern und Zuhörern bevölkern sollen, hat sich die Direction gezwungen gesehen, eine Anzahl Damen der ersten Classe (schrecklich, aber wahr!) von der Ausführung auszuschließen. Selbst Billets zum Raum der Zuhörer sol¬ len nicht, wie billig, verabfolgt sein. Wenn der Vorstand auch vollkom- 29*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/223>, abgerufen am 03.07.2024.