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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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bietet und fragt nicht, wo sie herkommen, ans welchen Verhältnissen
sie stammen oder wie die Zeit sie mag verwandelt haben.

Wir dürfen diese Art des Genusses und des Verbrauchs der Poesie
nicht schelten; sie hat vielmehr den größten Werth und die entschie¬
denste Berechtigung in der Bildungsstufe, auf der sie entsteht und ge¬
deiht. Aber ebenso wenig läßt sich verkennen, daß eine höhere Stufe,
ein reiferes Alter, eine entwickeltere Zeit andere Ansprüche machen, ei¬
nen andern Genuß der Poesie fordern und erlangen.

Hier stellt sich uns das Gedicht als kein abgeschlossen Selbstän¬
diges dar, sondern als Theil eines großen Ganzen, als Einzelheit ei¬
ner unendlichen Schöpfung; in seiner augenblicklichen Bestimmtheit ist
es nicht ohne Vor und Nach zu denken, nicht ohne den Zusammen¬
hang mit andrem Lebensausdruck. Hier kommt das Recht der Gestalt,
ihrer Mannichfaltigkeit und Wandlung zur Sprache, hier beginnt die
geschichtliche Umsicht, die Erkenntniß des Ursprünglichen und nachge¬
bildeten, die Vergleichung der Erzeugnisse, die Scheidung ihrer Bestand¬
theile. Und vor Allem drängt sich die Frage nach dem Urheber auf,
der uns bald ebenso wichtig wird, als seine wunderbaren Gaben, ja
wichtiger, denn höher als das Geschaffene steht uns mit Recht der
Schöpfer, wem: wir auch nur durch jenes ihn zumeist erkennen und
bewundern. Nun sind wir nicht mehr zufrieden, die Geschenke des
Meisters nur im Ganzen hinzunehmen, wir streben in das Innere zu
dringen, die Stoffe und Gestalten zu erfassen, das Einzelne in seine
feinsten Verzweigungen zu verfolgen. Wir erforschen die Ursprünge,
die Triebfedern, wir wollen Einsicht hal'en in die Bedingungen des
Entstehens, Theil haben an dem ganzen Leben, aus welchem die Dich¬
tung hervorgewachsen ist.

Es ist kein geringer Fortschritt in unsrer Literatur und in unserm
Nationalleben, daß die Werke unsrer größten Schriftsteller mehr und
mehr in der angegebenen Weise Gegenstand wissenschaftlicher Erklärung
werden, durch Schriften, Vorträge, auf Universitäten, in Schulen; daß
die Jugend solchergestalt frühzeitig zu den Schätzen hingeleitet wird,
die dem ganzen Vaterlande gemeinsam und seiner noch frischen Gegen¬
wart angehören. Daß dies geschieht, braucht in keiner Weise zum
Nachtheil unsrer Studien des classischen Alterthums zu gereichen, diese
können vielmehr im schönsten Vereine mit jener zusammengehen und in
bester Fürsorge grade für die deutsche Geistesbildung dürfen wir den
Wunsch aussprechen, daß nie der Tag kommen möge, der unsern Eifer
und unsre Tüchtigkeit auf dem Felde der griechischen und lateinischen


bietet und fragt nicht, wo sie herkommen, ans welchen Verhältnissen
sie stammen oder wie die Zeit sie mag verwandelt haben.

Wir dürfen diese Art des Genusses und des Verbrauchs der Poesie
nicht schelten; sie hat vielmehr den größten Werth und die entschie¬
denste Berechtigung in der Bildungsstufe, auf der sie entsteht und ge¬
deiht. Aber ebenso wenig läßt sich verkennen, daß eine höhere Stufe,
ein reiferes Alter, eine entwickeltere Zeit andere Ansprüche machen, ei¬
nen andern Genuß der Poesie fordern und erlangen.

Hier stellt sich uns das Gedicht als kein abgeschlossen Selbstän¬
diges dar, sondern als Theil eines großen Ganzen, als Einzelheit ei¬
ner unendlichen Schöpfung; in seiner augenblicklichen Bestimmtheit ist
es nicht ohne Vor und Nach zu denken, nicht ohne den Zusammen¬
hang mit andrem Lebensausdruck. Hier kommt das Recht der Gestalt,
ihrer Mannichfaltigkeit und Wandlung zur Sprache, hier beginnt die
geschichtliche Umsicht, die Erkenntniß des Ursprünglichen und nachge¬
bildeten, die Vergleichung der Erzeugnisse, die Scheidung ihrer Bestand¬
theile. Und vor Allem drängt sich die Frage nach dem Urheber auf,
der uns bald ebenso wichtig wird, als seine wunderbaren Gaben, ja
wichtiger, denn höher als das Geschaffene steht uns mit Recht der
Schöpfer, wem: wir auch nur durch jenes ihn zumeist erkennen und
bewundern. Nun sind wir nicht mehr zufrieden, die Geschenke des
Meisters nur im Ganzen hinzunehmen, wir streben in das Innere zu
dringen, die Stoffe und Gestalten zu erfassen, das Einzelne in seine
feinsten Verzweigungen zu verfolgen. Wir erforschen die Ursprünge,
die Triebfedern, wir wollen Einsicht hal'en in die Bedingungen des
Entstehens, Theil haben an dem ganzen Leben, aus welchem die Dich¬
tung hervorgewachsen ist.

Es ist kein geringer Fortschritt in unsrer Literatur und in unserm
Nationalleben, daß die Werke unsrer größten Schriftsteller mehr und
mehr in der angegebenen Weise Gegenstand wissenschaftlicher Erklärung
werden, durch Schriften, Vorträge, auf Universitäten, in Schulen; daß
die Jugend solchergestalt frühzeitig zu den Schätzen hingeleitet wird,
die dem ganzen Vaterlande gemeinsam und seiner noch frischen Gegen¬
wart angehören. Daß dies geschieht, braucht in keiner Weise zum
Nachtheil unsrer Studien des classischen Alterthums zu gereichen, diese
können vielmehr im schönsten Vereine mit jener zusammengehen und in
bester Fürsorge grade für die deutsche Geistesbildung dürfen wir den
Wunsch aussprechen, daß nie der Tag kommen möge, der unsern Eifer
und unsre Tüchtigkeit auf dem Felde der griechischen und lateinischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/211>, abgerufen am 03.07.2024.