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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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gerd gelehrt wird? Wäre solch' ein dürstig Resultat nicht bei guter
Lehre in halb so viel Zeit zu erreichen? Oder glauben Sie der
Phrase, es sei das klassische Alterthum den jungen Leuten trotz so un¬
genügendem Wortverständnisse eingeimpft worden? Glauben Sie ihr
ja nicht. Was wir von klassischen Formen in unsern Sinn eingeprägt,
das haben wir in späterer Zeit, wenn uns das Brotstudium dazu
Zeit und Muße ließ, mühsam angeeignet. Dem Gymnasiasten ist in
der grammatischen Tifielei und in dem vergleichenden Lesartenschwalle
nichts Wesentliches erschlossen worden.

Und wie steht es beim Abgange vom Gymnasium mit den neuen
Disciplinen? In der Geschichte ist alte Geschichte ausführlich betrie¬
ben worden. Die wichtigste neuere Geschichte Europa's seit der Re-
formation hat im Verhältnisse eine Nebenrolle gespielt. In der Geo¬
graphie ist eS noch viel schlimmer. Ich habe als Tertianer in Leipzig
Privatstunde nehmen müssen in der Geographie, weil ich in den un¬
tern Classen nur etwas alte Geographie und von der neuern nur ein
lückenhaftes Stückwerk erlernt hatte, mir aber der Wahrheit gemäß
mitgetheilt wurde, daß in den höhern Classen keine Gelegenheit vor¬
käme, jene Lücken in der neuern Geographie gründlich zu ergänzen.
Fragen Sie jetzt genau nach und Sie werden entdecken, daß dies noch
nicht besser geworden ist. Soll ich die verschwimmende Kenntniß der
Mathematik, die nichtige der Physik, die oberflächliche der deutschen
Sprache und Literatur erwähnen? Und dafür neun Lebensjahre!
Will man heutiges Tages seinen Knaben so vorbereiten bis zum acht¬
zehnten Jahre, wie er vorbereitet sein muß, um wirklich ausgerüstet
in diese oder jene Laufbahn einzutreten, so bleibt nichts übrig, als ihn
Griechisch und Lateinisch privatim erlernen und ihn übrigens in eine
Real- oder Handelsschule eintreten zu lassen, wenn diese vorhanden
und nur im Annähern der Tüchtigkeit vorhanden ist.

Diesem Zustande muß und kann abgeholfen werden durch gründ¬
liche Reform der Gymnasien.




gerd gelehrt wird? Wäre solch' ein dürstig Resultat nicht bei guter
Lehre in halb so viel Zeit zu erreichen? Oder glauben Sie der
Phrase, es sei das klassische Alterthum den jungen Leuten trotz so un¬
genügendem Wortverständnisse eingeimpft worden? Glauben Sie ihr
ja nicht. Was wir von klassischen Formen in unsern Sinn eingeprägt,
das haben wir in späterer Zeit, wenn uns das Brotstudium dazu
Zeit und Muße ließ, mühsam angeeignet. Dem Gymnasiasten ist in
der grammatischen Tifielei und in dem vergleichenden Lesartenschwalle
nichts Wesentliches erschlossen worden.

Und wie steht es beim Abgange vom Gymnasium mit den neuen
Disciplinen? In der Geschichte ist alte Geschichte ausführlich betrie¬
ben worden. Die wichtigste neuere Geschichte Europa's seit der Re-
formation hat im Verhältnisse eine Nebenrolle gespielt. In der Geo¬
graphie ist eS noch viel schlimmer. Ich habe als Tertianer in Leipzig
Privatstunde nehmen müssen in der Geographie, weil ich in den un¬
tern Classen nur etwas alte Geographie und von der neuern nur ein
lückenhaftes Stückwerk erlernt hatte, mir aber der Wahrheit gemäß
mitgetheilt wurde, daß in den höhern Classen keine Gelegenheit vor¬
käme, jene Lücken in der neuern Geographie gründlich zu ergänzen.
Fragen Sie jetzt genau nach und Sie werden entdecken, daß dies noch
nicht besser geworden ist. Soll ich die verschwimmende Kenntniß der
Mathematik, die nichtige der Physik, die oberflächliche der deutschen
Sprache und Literatur erwähnen? Und dafür neun Lebensjahre!
Will man heutiges Tages seinen Knaben so vorbereiten bis zum acht¬
zehnten Jahre, wie er vorbereitet sein muß, um wirklich ausgerüstet
in diese oder jene Laufbahn einzutreten, so bleibt nichts übrig, als ihn
Griechisch und Lateinisch privatim erlernen und ihn übrigens in eine
Real- oder Handelsschule eintreten zu lassen, wenn diese vorhanden
und nur im Annähern der Tüchtigkeit vorhanden ist.

Diesem Zustande muß und kann abgeholfen werden durch gründ¬
liche Reform der Gymnasien.




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[0203] gerd gelehrt wird? Wäre solch' ein dürstig Resultat nicht bei guter Lehre in halb so viel Zeit zu erreichen? Oder glauben Sie der Phrase, es sei das klassische Alterthum den jungen Leuten trotz so un¬ genügendem Wortverständnisse eingeimpft worden? Glauben Sie ihr ja nicht. Was wir von klassischen Formen in unsern Sinn eingeprägt, das haben wir in späterer Zeit, wenn uns das Brotstudium dazu Zeit und Muße ließ, mühsam angeeignet. Dem Gymnasiasten ist in der grammatischen Tifielei und in dem vergleichenden Lesartenschwalle nichts Wesentliches erschlossen worden. Und wie steht es beim Abgange vom Gymnasium mit den neuen Disciplinen? In der Geschichte ist alte Geschichte ausführlich betrie¬ ben worden. Die wichtigste neuere Geschichte Europa's seit der Re- formation hat im Verhältnisse eine Nebenrolle gespielt. In der Geo¬ graphie ist eS noch viel schlimmer. Ich habe als Tertianer in Leipzig Privatstunde nehmen müssen in der Geographie, weil ich in den un¬ tern Classen nur etwas alte Geographie und von der neuern nur ein lückenhaftes Stückwerk erlernt hatte, mir aber der Wahrheit gemäß mitgetheilt wurde, daß in den höhern Classen keine Gelegenheit vor¬ käme, jene Lücken in der neuern Geographie gründlich zu ergänzen. Fragen Sie jetzt genau nach und Sie werden entdecken, daß dies noch nicht besser geworden ist. Soll ich die verschwimmende Kenntniß der Mathematik, die nichtige der Physik, die oberflächliche der deutschen Sprache und Literatur erwähnen? Und dafür neun Lebensjahre! Will man heutiges Tages seinen Knaben so vorbereiten bis zum acht¬ zehnten Jahre, wie er vorbereitet sein muß, um wirklich ausgerüstet in diese oder jene Laufbahn einzutreten, so bleibt nichts übrig, als ihn Griechisch und Lateinisch privatim erlernen und ihn übrigens in eine Real- oder Handelsschule eintreten zu lassen, wenn diese vorhanden und nur im Annähern der Tüchtigkeit vorhanden ist. Diesem Zustande muß und kann abgeholfen werden durch gründ¬ liche Reform der Gymnasien.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/203>, abgerufen am 26.08.2024.