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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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Welchem Kunst, Philosophie, Wissenschaft, Sprache sich zuerst als ab¬
gesonderte Bildungshöhen aus der früher verschwommenen Entwicke¬
lung des Menschengeistes erhoben und zur Gestaltung von menschheits¬
würdigen Staatsverfassungen beitrugen, die von der Gottesstimme des
Volks durchklungen wurden, daß ein solches Land, eine solche Geschichte,
dem reichbedachten Grillparzer keine andere Anregung zu dramatischen
Schöpfungen bot, als uranfängliche Sagen und Mythen, durch welche
Griechenland noch halb mit dem Traumleben der ältesten orientalischen
Völker zusammenhing. Er schrieb die Trilogie "das goldne Vließ"
und wenn die diesem Werke vorangehende "Sappho" und das ihm
nachfolgende Drama "des Meeres und der Liebe Wellen" auch
dem schon zum vollständigen Charakter sich entwickelnden. Griechenland an¬
gehören, ist doch in ihnen keine Spur jener historischen Anschauung,
durch welche der Dichter in den irdischen Leib der Geschichte den himm¬
lischen Prometheus-Funken wirft<

"Sappho" -- im Jahre 1818 erschienen und eine Rolle der un¬
vergeßlichen Schröder, mit der das Stück auch fast von allen deutschen
Bühnen verschwand -- ist ein lyrisches Drama von überwältigender
Schönheit. Freilich wird man in der Darstellung dieses antiken Stof¬
fes vergebens nach den Reizen der Antike suchen und nicht an Goe¬
the's Iphigenia darf man sich erinnern, wenn man zum Genuß der
Grillparzer'schen Sappho ein empfängliches Gemüth mitbringen will.
Den Hauptcharakteren fehlt die objective Gestaltung, die abgegrenzte
Bestimmtheit, jene griechisch heitere Ruhe, in der sich noch Schmerz
und wilde Leidenschaft mit harmonisch brausenden Wellen bewege".
Sappho, die Dichterin, nimmt ihrem Autor den Griffel aus der Hand,
durch dessen Zauberkraft er sie plastisch hätte hinstellen sollen, um sich
damit vor dem Zuschauer in lyrischen Monologen selbst abzuconterfeien;
Sappho, die Priesterin aus Lesbos, gelangt in Grillparzer's Stück
nicht einmal zur pantheistischen Sinnlichkeit der Alten, die den letzten
Gürtel mit erhabener Geberde abstreift, weil sie noch im Naturdienst
den Gottesdienst feiert. Phaon, von den olympischen Spielen als Sie¬
ger heimkehrend, also ein irdischer Halbgott, mit dem Anrecht, unter
die olympischen Götter versetzt zu werden, im ersten Vollgenuß einer
errungenen Unsterblichkeit, für welche der christlich modernen Zeit das
Volksleben, der Glaube und das Abzeichen fehlt, Phaon, der Dichte¬
rin Sappho nicht nur gleichberechtigt gegenüber, sondern nach griechi¬
scher Anschauung über ihr stehend, weil er würdig, daß sie ihr Sai-
tenspiel zu seinem Preis tönen lasse, -- zu welcher traurigen Unter-


Welchem Kunst, Philosophie, Wissenschaft, Sprache sich zuerst als ab¬
gesonderte Bildungshöhen aus der früher verschwommenen Entwicke¬
lung des Menschengeistes erhoben und zur Gestaltung von menschheits¬
würdigen Staatsverfassungen beitrugen, die von der Gottesstimme des
Volks durchklungen wurden, daß ein solches Land, eine solche Geschichte,
dem reichbedachten Grillparzer keine andere Anregung zu dramatischen
Schöpfungen bot, als uranfängliche Sagen und Mythen, durch welche
Griechenland noch halb mit dem Traumleben der ältesten orientalischen
Völker zusammenhing. Er schrieb die Trilogie „das goldne Vließ"
und wenn die diesem Werke vorangehende „Sappho" und das ihm
nachfolgende Drama „des Meeres und der Liebe Wellen" auch
dem schon zum vollständigen Charakter sich entwickelnden. Griechenland an¬
gehören, ist doch in ihnen keine Spur jener historischen Anschauung,
durch welche der Dichter in den irdischen Leib der Geschichte den himm¬
lischen Prometheus-Funken wirft<

„Sappho" — im Jahre 1818 erschienen und eine Rolle der un¬
vergeßlichen Schröder, mit der das Stück auch fast von allen deutschen
Bühnen verschwand — ist ein lyrisches Drama von überwältigender
Schönheit. Freilich wird man in der Darstellung dieses antiken Stof¬
fes vergebens nach den Reizen der Antike suchen und nicht an Goe¬
the's Iphigenia darf man sich erinnern, wenn man zum Genuß der
Grillparzer'schen Sappho ein empfängliches Gemüth mitbringen will.
Den Hauptcharakteren fehlt die objective Gestaltung, die abgegrenzte
Bestimmtheit, jene griechisch heitere Ruhe, in der sich noch Schmerz
und wilde Leidenschaft mit harmonisch brausenden Wellen bewege».
Sappho, die Dichterin, nimmt ihrem Autor den Griffel aus der Hand,
durch dessen Zauberkraft er sie plastisch hätte hinstellen sollen, um sich
damit vor dem Zuschauer in lyrischen Monologen selbst abzuconterfeien;
Sappho, die Priesterin aus Lesbos, gelangt in Grillparzer's Stück
nicht einmal zur pantheistischen Sinnlichkeit der Alten, die den letzten
Gürtel mit erhabener Geberde abstreift, weil sie noch im Naturdienst
den Gottesdienst feiert. Phaon, von den olympischen Spielen als Sie¬
ger heimkehrend, also ein irdischer Halbgott, mit dem Anrecht, unter
die olympischen Götter versetzt zu werden, im ersten Vollgenuß einer
errungenen Unsterblichkeit, für welche der christlich modernen Zeit das
Volksleben, der Glaube und das Abzeichen fehlt, Phaon, der Dichte¬
rin Sappho nicht nur gleichberechtigt gegenüber, sondern nach griechi¬
scher Anschauung über ihr stehend, weil er würdig, daß sie ihr Sai-
tenspiel zu seinem Preis tönen lasse, — zu welcher traurigen Unter-


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[0184] Welchem Kunst, Philosophie, Wissenschaft, Sprache sich zuerst als ab¬ gesonderte Bildungshöhen aus der früher verschwommenen Entwicke¬ lung des Menschengeistes erhoben und zur Gestaltung von menschheits¬ würdigen Staatsverfassungen beitrugen, die von der Gottesstimme des Volks durchklungen wurden, daß ein solches Land, eine solche Geschichte, dem reichbedachten Grillparzer keine andere Anregung zu dramatischen Schöpfungen bot, als uranfängliche Sagen und Mythen, durch welche Griechenland noch halb mit dem Traumleben der ältesten orientalischen Völker zusammenhing. Er schrieb die Trilogie „das goldne Vließ" und wenn die diesem Werke vorangehende „Sappho" und das ihm nachfolgende Drama „des Meeres und der Liebe Wellen" auch dem schon zum vollständigen Charakter sich entwickelnden. Griechenland an¬ gehören, ist doch in ihnen keine Spur jener historischen Anschauung, durch welche der Dichter in den irdischen Leib der Geschichte den himm¬ lischen Prometheus-Funken wirft< „Sappho" — im Jahre 1818 erschienen und eine Rolle der un¬ vergeßlichen Schröder, mit der das Stück auch fast von allen deutschen Bühnen verschwand — ist ein lyrisches Drama von überwältigender Schönheit. Freilich wird man in der Darstellung dieses antiken Stof¬ fes vergebens nach den Reizen der Antike suchen und nicht an Goe¬ the's Iphigenia darf man sich erinnern, wenn man zum Genuß der Grillparzer'schen Sappho ein empfängliches Gemüth mitbringen will. Den Hauptcharakteren fehlt die objective Gestaltung, die abgegrenzte Bestimmtheit, jene griechisch heitere Ruhe, in der sich noch Schmerz und wilde Leidenschaft mit harmonisch brausenden Wellen bewege». Sappho, die Dichterin, nimmt ihrem Autor den Griffel aus der Hand, durch dessen Zauberkraft er sie plastisch hätte hinstellen sollen, um sich damit vor dem Zuschauer in lyrischen Monologen selbst abzuconterfeien; Sappho, die Priesterin aus Lesbos, gelangt in Grillparzer's Stück nicht einmal zur pantheistischen Sinnlichkeit der Alten, die den letzten Gürtel mit erhabener Geberde abstreift, weil sie noch im Naturdienst den Gottesdienst feiert. Phaon, von den olympischen Spielen als Sie¬ ger heimkehrend, also ein irdischer Halbgott, mit dem Anrecht, unter die olympischen Götter versetzt zu werden, im ersten Vollgenuß einer errungenen Unsterblichkeit, für welche der christlich modernen Zeit das Volksleben, der Glaube und das Abzeichen fehlt, Phaon, der Dichte¬ rin Sappho nicht nur gleichberechtigt gegenüber, sondern nach griechi¬ scher Anschauung über ihr stehend, weil er würdig, daß sie ihr Sai- tenspiel zu seinem Preis tönen lasse, — zu welcher traurigen Unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/184>, abgerufen am 26.08.2024.