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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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gesellschaftlichen Ausdrucks mit der "Aureole," mit dem "illustre" und
"magnifique" ist in diesem Romane ziemlich beseitigt, wenn auch keines¬
wegs ganz. Das muß ihr anch sehr schwer werden, da sie abgeschlossen
lebt und nur den immerwährenden Scheltworten von außen nachgibt,
nicht aber selbst empfindet, daß dieses Kauderwelsch von schlechtem Ge¬
schmacke sei.

Sibylle erzählt ihre Lebensgeschichte. Sie ist eben wieder ein
weiblicher Faust, der nicht lieben kann. Der Anfang dieses unvermeid¬
lichen Thema's ist mit frischer Kraft geschrieben und lockt. Dann ver¬
sinkt das Buch in die herkömmlichen Spinngewebe des einen Gedan¬
kens: der liebenswürdige Gatte genügt nicht, der Freund "captivirt",
aber überwältigt nicht, auch dann nicht, als der Gatte gestorben ist
und der Freund treue Ansprüche zeigt. In dieser Gegend wird das
Buch gradezu langweilig. Sibylle gibt endlich nach und heirathet
Otbert und wird von diesem untreu behandelt. Wie sie diese Untreue
auffaßt, der Schluß des ersten Bandes -- das ist genial gedacht und
empfunden und lockt uns in den zweiten Band, obwohl wir uns ein¬
gestehen, daß für einen zweiten Band nichts vorbereitet ist und Alles
aus dem Nichts neu geschaffen werden muß. Das gelingt denn auch
nicht, obwohl der Musiklehrer Fidelis, dessen tiefe Liebe zu ihr jetzt in
den Vordergrund tritt, eine schone Gestalt ist. Wir wissen bereits zu
gut, daß er dieser "immensen, aber leeren Seele" Sibyllens keine ei¬
gentliche Liebe abgewinnen kann; wir sind durch die uninteressante bio¬
graphische Form zu sehr auf eine bloße Begräbnißgeschichte vorbereitet
und als diese traurige Entscheidung mit Fidelis eingetreten ist, sind
wir wiederum ohne fortdrängenden Lebenskeim des Romanes und des
Endes herzlich bedürftig. Dieselben Modulationen ein und desselben
Gedankens gähnen uns an, wir sind geneigt, Blatt für Blatt zu über¬
schlagen, bis ein neuer Liebhaber auftritt, den Sibylle für den Lieb¬
haber ihrer Tochter hält. Wie immer in diesen Büchern, haben wir
reisen und reisen, es mit diesem und jenem Orte versuchen, viermal,
fünfmal neu anknüpfen und in Ermangelung einer Einheit "allendlich"
denn auch wieder in einem Bauerhause der Schweiz kurz vor dem
Ende des Buches einen neuen Roman anheben müssen. Dieser neue
Roman mit dem "bewilderten" Wilderich ist für den Grundgedanken
der Sibylle sehr gut gedacht: weil Sibylle nicht lieben kann, verkennt
sie Wilderich's Liebe zu sich, glaubt ihre Tochter geliebt, zieht ihre
Tochter in so falsche Hoffnung hinein und vernichtet ihr Kind dadurch,
daß das Mißverständnis; an den Tag kommt.


Gr.nzl.peu. IV. Isi". 21

gesellschaftlichen Ausdrucks mit der „Aureole," mit dem „illustre" und
„magnifique" ist in diesem Romane ziemlich beseitigt, wenn auch keines¬
wegs ganz. Das muß ihr anch sehr schwer werden, da sie abgeschlossen
lebt und nur den immerwährenden Scheltworten von außen nachgibt,
nicht aber selbst empfindet, daß dieses Kauderwelsch von schlechtem Ge¬
schmacke sei.

Sibylle erzählt ihre Lebensgeschichte. Sie ist eben wieder ein
weiblicher Faust, der nicht lieben kann. Der Anfang dieses unvermeid¬
lichen Thema's ist mit frischer Kraft geschrieben und lockt. Dann ver¬
sinkt das Buch in die herkömmlichen Spinngewebe des einen Gedan¬
kens: der liebenswürdige Gatte genügt nicht, der Freund „captivirt",
aber überwältigt nicht, auch dann nicht, als der Gatte gestorben ist
und der Freund treue Ansprüche zeigt. In dieser Gegend wird das
Buch gradezu langweilig. Sibylle gibt endlich nach und heirathet
Otbert und wird von diesem untreu behandelt. Wie sie diese Untreue
auffaßt, der Schluß des ersten Bandes — das ist genial gedacht und
empfunden und lockt uns in den zweiten Band, obwohl wir uns ein¬
gestehen, daß für einen zweiten Band nichts vorbereitet ist und Alles
aus dem Nichts neu geschaffen werden muß. Das gelingt denn auch
nicht, obwohl der Musiklehrer Fidelis, dessen tiefe Liebe zu ihr jetzt in
den Vordergrund tritt, eine schone Gestalt ist. Wir wissen bereits zu
gut, daß er dieser „immensen, aber leeren Seele" Sibyllens keine ei¬
gentliche Liebe abgewinnen kann; wir sind durch die uninteressante bio¬
graphische Form zu sehr auf eine bloße Begräbnißgeschichte vorbereitet
und als diese traurige Entscheidung mit Fidelis eingetreten ist, sind
wir wiederum ohne fortdrängenden Lebenskeim des Romanes und des
Endes herzlich bedürftig. Dieselben Modulationen ein und desselben
Gedankens gähnen uns an, wir sind geneigt, Blatt für Blatt zu über¬
schlagen, bis ein neuer Liebhaber auftritt, den Sibylle für den Lieb¬
haber ihrer Tochter hält. Wie immer in diesen Büchern, haben wir
reisen und reisen, es mit diesem und jenem Orte versuchen, viermal,
fünfmal neu anknüpfen und in Ermangelung einer Einheit „allendlich"
denn auch wieder in einem Bauerhause der Schweiz kurz vor dem
Ende des Buches einen neuen Roman anheben müssen. Dieser neue
Roman mit dem „bewilderten" Wilderich ist für den Grundgedanken
der Sibylle sehr gut gedacht: weil Sibylle nicht lieben kann, verkennt
sie Wilderich's Liebe zu sich, glaubt ihre Tochter geliebt, zieht ihre
Tochter in so falsche Hoffnung hinein und vernichtet ihr Kind dadurch,
daß das Mißverständnis; an den Tag kommt.


Gr.nzl.peu. IV. Isi«. 21
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/157>, abgerufen am 26.08.2024.