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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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den nahen Wald ritten, aus dem man bald einen Pistolenschuß
hörte und wo man am andern Tage eine stumme Leiche fand? --
Aber nicht an diese dachte ich, da ich von den räthselhaften Er¬
scheinungen auf den Dörfern zu sprechen anfing, ich dachte an ei¬
nen Mann, der in einer Stadt als Hoffmannsche Figur
Aussehen gemacht hätte und dessen Andenken gewiß von hundert
Federn fest gehalten worden wäre.

An einem schönen Sommermorgen -- es mögen jetzt ungefähr
sechszehn Jahre sein -- ging plötzlich ein Mann durch unser Dorf,
den die Hunde doppelt wild anbellten und vor dem die Kinder
schreiend und erschrocken auseinanderliefen, um sich im Schooße der
Mutter zu verbergen. Selbst die Erwachsenen wichen ihm scheu
aus, und wußten nicht, ob sie ein lächelndes oder ernstes Gesicht
machen sollten. Der fremde Mann kümmerte sich um alles das nicht,
ging stolz und schweigend umher und setzte oder lagerte sich, wo
es ihm einfiel. Mehrere Tage vergingen; der Mann blieb, ohne
daß Jemand sagen konnte, wo er übernachtete oder zu Tische war-
Das Dorf und seine Bewohner schienen ihm zu gefallen und Man¬
chem hatte er sich schon genähert und ihn freundlich angesprochen.
Die Hunde bellten ihn nicht mehr an und die Kinder liefen nicht
mehr fort von ihm; im Gegentheile sah man ihn oft, wie den Rat¬
tenfänger von Hameln, an der Spitze einer ganzen Kinderschaar,
die er durch hunderterlei Späße unterhielt. Die Kinder waren es
auch, die ihn in die Häuser und unter die Menschen einführten;
denn wenn sie Abends nach Hause kamen, konnten sie nicht genug
von dem tollen Herrn Richter und von seinen schönen Geschichten
erzählen. Unter diesen Geschichten waren auch neben den phanta¬
stischen Mährchen die Großthaten der Griechen und Römer, wohl
auch die Kriege Napoleon'S. Wieder nach wenigen Tagen war
der tolle Herr Richter von Alt und Jung gleich gut gekannt und
die Gebildeten staunten über sein reiches Wissen, über seine edlen
Manieren und über die herrliche Männergestalt, die sich hinter dem
sonderbarsten, man kann sagen, wahnsinnigsten Aufzuge versteckte.
Seine Kleider waren vom besten, feinsten Stoffe, aber überall ge¬
waltsam durchlöchert; allein die Löcher waren mit Grase verstopft,
an dem noch die Erde hing. Ebenso war sein Hut zugerichtet,
aus dessen Löchern hohe Gräser wie Federbüsche wehten. Die Füße


den nahen Wald ritten, aus dem man bald einen Pistolenschuß
hörte und wo man am andern Tage eine stumme Leiche fand? —
Aber nicht an diese dachte ich, da ich von den räthselhaften Er¬
scheinungen auf den Dörfern zu sprechen anfing, ich dachte an ei¬
nen Mann, der in einer Stadt als Hoffmannsche Figur
Aussehen gemacht hätte und dessen Andenken gewiß von hundert
Federn fest gehalten worden wäre.

An einem schönen Sommermorgen — es mögen jetzt ungefähr
sechszehn Jahre sein — ging plötzlich ein Mann durch unser Dorf,
den die Hunde doppelt wild anbellten und vor dem die Kinder
schreiend und erschrocken auseinanderliefen, um sich im Schooße der
Mutter zu verbergen. Selbst die Erwachsenen wichen ihm scheu
aus, und wußten nicht, ob sie ein lächelndes oder ernstes Gesicht
machen sollten. Der fremde Mann kümmerte sich um alles das nicht,
ging stolz und schweigend umher und setzte oder lagerte sich, wo
es ihm einfiel. Mehrere Tage vergingen; der Mann blieb, ohne
daß Jemand sagen konnte, wo er übernachtete oder zu Tische war-
Das Dorf und seine Bewohner schienen ihm zu gefallen und Man¬
chem hatte er sich schon genähert und ihn freundlich angesprochen.
Die Hunde bellten ihn nicht mehr an und die Kinder liefen nicht
mehr fort von ihm; im Gegentheile sah man ihn oft, wie den Rat¬
tenfänger von Hameln, an der Spitze einer ganzen Kinderschaar,
die er durch hunderterlei Späße unterhielt. Die Kinder waren es
auch, die ihn in die Häuser und unter die Menschen einführten;
denn wenn sie Abends nach Hause kamen, konnten sie nicht genug
von dem tollen Herrn Richter und von seinen schönen Geschichten
erzählen. Unter diesen Geschichten waren auch neben den phanta¬
stischen Mährchen die Großthaten der Griechen und Römer, wohl
auch die Kriege Napoleon'S. Wieder nach wenigen Tagen war
der tolle Herr Richter von Alt und Jung gleich gut gekannt und
die Gebildeten staunten über sein reiches Wissen, über seine edlen
Manieren und über die herrliche Männergestalt, die sich hinter dem
sonderbarsten, man kann sagen, wahnsinnigsten Aufzuge versteckte.
Seine Kleider waren vom besten, feinsten Stoffe, aber überall ge¬
waltsam durchlöchert; allein die Löcher waren mit Grase verstopft,
an dem noch die Erde hing. Ebenso war sein Hut zugerichtet,
aus dessen Löchern hohe Gräser wie Federbüsche wehten. Die Füße


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[0070] den nahen Wald ritten, aus dem man bald einen Pistolenschuß hörte und wo man am andern Tage eine stumme Leiche fand? — Aber nicht an diese dachte ich, da ich von den räthselhaften Er¬ scheinungen auf den Dörfern zu sprechen anfing, ich dachte an ei¬ nen Mann, der in einer Stadt als Hoffmannsche Figur Aussehen gemacht hätte und dessen Andenken gewiß von hundert Federn fest gehalten worden wäre. An einem schönen Sommermorgen — es mögen jetzt ungefähr sechszehn Jahre sein — ging plötzlich ein Mann durch unser Dorf, den die Hunde doppelt wild anbellten und vor dem die Kinder schreiend und erschrocken auseinanderliefen, um sich im Schooße der Mutter zu verbergen. Selbst die Erwachsenen wichen ihm scheu aus, und wußten nicht, ob sie ein lächelndes oder ernstes Gesicht machen sollten. Der fremde Mann kümmerte sich um alles das nicht, ging stolz und schweigend umher und setzte oder lagerte sich, wo es ihm einfiel. Mehrere Tage vergingen; der Mann blieb, ohne daß Jemand sagen konnte, wo er übernachtete oder zu Tische war- Das Dorf und seine Bewohner schienen ihm zu gefallen und Man¬ chem hatte er sich schon genähert und ihn freundlich angesprochen. Die Hunde bellten ihn nicht mehr an und die Kinder liefen nicht mehr fort von ihm; im Gegentheile sah man ihn oft, wie den Rat¬ tenfänger von Hameln, an der Spitze einer ganzen Kinderschaar, die er durch hunderterlei Späße unterhielt. Die Kinder waren es auch, die ihn in die Häuser und unter die Menschen einführten; denn wenn sie Abends nach Hause kamen, konnten sie nicht genug von dem tollen Herrn Richter und von seinen schönen Geschichten erzählen. Unter diesen Geschichten waren auch neben den phanta¬ stischen Mährchen die Großthaten der Griechen und Römer, wohl auch die Kriege Napoleon'S. Wieder nach wenigen Tagen war der tolle Herr Richter von Alt und Jung gleich gut gekannt und die Gebildeten staunten über sein reiches Wissen, über seine edlen Manieren und über die herrliche Männergestalt, die sich hinter dem sonderbarsten, man kann sagen, wahnsinnigsten Aufzuge versteckte. Seine Kleider waren vom besten, feinsten Stoffe, aber überall ge¬ waltsam durchlöchert; allein die Löcher waren mit Grase verstopft, an dem noch die Erde hing. Ebenso war sein Hut zugerichtet, aus dessen Löchern hohe Gräser wie Federbüsche wehten. Die Füße

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/70>, abgerufen am 24.11.2024.