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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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wenn auch nicht gleiche Verhältnisse des Staates und der Kirche, wie
damals, vorliegen, doch aber ahnliche Symptome eines Auflösungs-
kampfes im Schooße der römischen Kirche ihre Pulsschläge haben
fühlen lassen. In dieser politischen Stellung Hutteils boten sich nun
ebenso mannichfache als handgreifliche Anknüpfungspunkte mit unsrer
Zeitgeschichte dar, krumme und gerade Linien, Licht und Schatten ge¬
nug, um daraus ein Spiegelbild für die Gegenwart zusammenzustel¬
len; allein der Verfasser hat hier, wie überhaupt, zwar das historische
Material ebenso sorgfältig als glücklich aus Huttens eigenen Schrif¬
ten belegt, zusammengestellt, allein von der eigenen Neflerion, von der
Hervorhebung jener Vergletchungspunkte, von den Folgerungen --
kurz von dem Raisonnement -- hat er abgesehen. Wenn er hierüber
in der Vorrede sagt: "Meine Absicht ist, Ulrich von Hütten in sei¬
ner Zeit einfach und treu vorzuführen. Durch seine Handlungen
und Schriften laß' ich ihn selbst sprechen, ohne dem Urtheil des Le¬
sers durch lange Betrachtungen und Reflexionen vorgreifen zu wol¬
len und dasselbe vielleicht gar dadurch zu verdunkeln," so hat er sich
damit zwar selbst auf den rein historischen Standpunkt confinirt, aber
damit ist die Frage, ob er mit dieser Beschränkung recht gethan, oder
ob er nicht vielleicht dadurch der zeitgemäßen Bedeutsamkett seines Wer¬
kes die treffende Spitze abgebrochen, die einschneidende Schärfe abge¬
stumpft habe, noch keineswegs zu seinen Gunsten beantwortet. Es
mag wohl wahr sein, daß ein allzu tendenziöses Hervorheben derar¬
tiger Zeitbeziehungen oftmals zu einer Verstimmung des Lesers füh¬
ren kann, wenn dieser sieht, daß der Autor , ihm eine eigne geistige
Mitwirkung bei dem allseitigen Verständnisse seines Werkes durchaus
nicht hat zugestehen und übrig lassen wollen; allein zwischen einem
indiscreten Fingerdeuten und dem starre", schweigenden Geschlossenst'""
der Faust liegt noch die goldne Mittelstraße der leichten, freien Hand¬
bewegung. Oftmals wird uns eine Illusion zerstört, wenn ein ferner
Waldrücken, der mit blauem Dufte unsern nach dem Horizonte schwei¬
fenden Blick hemmt, durch das Objectivglas eines Fernrohrs dicht
vor unser Auge gestellt wird, und wir nun statt einer sanft geschlunge¬
nen Wellenlinie plötzlich einige Tannenwipfel vor uns sehen; wan¬
deln wir aber auf jenem waldigen Bergrücken selbst, jetzt immer nur
mitten unter Stämmen, dann freuen wir uns, wenn die leitende Hand
des ortskundigen Führers uns plötzlich zu einer Lichtung führt, wo
sich uns eine Aussicht eröffnet, und dann wieder zu einer andern, wo
wir wieder Neues erblicken und so fort und fort, daß wir Bild an


wenn auch nicht gleiche Verhältnisse des Staates und der Kirche, wie
damals, vorliegen, doch aber ahnliche Symptome eines Auflösungs-
kampfes im Schooße der römischen Kirche ihre Pulsschläge haben
fühlen lassen. In dieser politischen Stellung Hutteils boten sich nun
ebenso mannichfache als handgreifliche Anknüpfungspunkte mit unsrer
Zeitgeschichte dar, krumme und gerade Linien, Licht und Schatten ge¬
nug, um daraus ein Spiegelbild für die Gegenwart zusammenzustel¬
len; allein der Verfasser hat hier, wie überhaupt, zwar das historische
Material ebenso sorgfältig als glücklich aus Huttens eigenen Schrif¬
ten belegt, zusammengestellt, allein von der eigenen Neflerion, von der
Hervorhebung jener Vergletchungspunkte, von den Folgerungen —
kurz von dem Raisonnement — hat er abgesehen. Wenn er hierüber
in der Vorrede sagt: „Meine Absicht ist, Ulrich von Hütten in sei¬
ner Zeit einfach und treu vorzuführen. Durch seine Handlungen
und Schriften laß' ich ihn selbst sprechen, ohne dem Urtheil des Le¬
sers durch lange Betrachtungen und Reflexionen vorgreifen zu wol¬
len und dasselbe vielleicht gar dadurch zu verdunkeln," so hat er sich
damit zwar selbst auf den rein historischen Standpunkt confinirt, aber
damit ist die Frage, ob er mit dieser Beschränkung recht gethan, oder
ob er nicht vielleicht dadurch der zeitgemäßen Bedeutsamkett seines Wer¬
kes die treffende Spitze abgebrochen, die einschneidende Schärfe abge¬
stumpft habe, noch keineswegs zu seinen Gunsten beantwortet. Es
mag wohl wahr sein, daß ein allzu tendenziöses Hervorheben derar¬
tiger Zeitbeziehungen oftmals zu einer Verstimmung des Lesers füh¬
ren kann, wenn dieser sieht, daß der Autor , ihm eine eigne geistige
Mitwirkung bei dem allseitigen Verständnisse seines Werkes durchaus
nicht hat zugestehen und übrig lassen wollen; allein zwischen einem
indiscreten Fingerdeuten und dem starre», schweigenden Geschlossenst'«»
der Faust liegt noch die goldne Mittelstraße der leichten, freien Hand¬
bewegung. Oftmals wird uns eine Illusion zerstört, wenn ein ferner
Waldrücken, der mit blauem Dufte unsern nach dem Horizonte schwei¬
fenden Blick hemmt, durch das Objectivglas eines Fernrohrs dicht
vor unser Auge gestellt wird, und wir nun statt einer sanft geschlunge¬
nen Wellenlinie plötzlich einige Tannenwipfel vor uns sehen; wan¬
deln wir aber auf jenem waldigen Bergrücken selbst, jetzt immer nur
mitten unter Stämmen, dann freuen wir uns, wenn die leitende Hand
des ortskundigen Führers uns plötzlich zu einer Lichtung führt, wo
sich uns eine Aussicht eröffnet, und dann wieder zu einer andern, wo
wir wieder Neues erblicken und so fort und fort, daß wir Bild an


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[0572] wenn auch nicht gleiche Verhältnisse des Staates und der Kirche, wie damals, vorliegen, doch aber ahnliche Symptome eines Auflösungs- kampfes im Schooße der römischen Kirche ihre Pulsschläge haben fühlen lassen. In dieser politischen Stellung Hutteils boten sich nun ebenso mannichfache als handgreifliche Anknüpfungspunkte mit unsrer Zeitgeschichte dar, krumme und gerade Linien, Licht und Schatten ge¬ nug, um daraus ein Spiegelbild für die Gegenwart zusammenzustel¬ len; allein der Verfasser hat hier, wie überhaupt, zwar das historische Material ebenso sorgfältig als glücklich aus Huttens eigenen Schrif¬ ten belegt, zusammengestellt, allein von der eigenen Neflerion, von der Hervorhebung jener Vergletchungspunkte, von den Folgerungen — kurz von dem Raisonnement — hat er abgesehen. Wenn er hierüber in der Vorrede sagt: „Meine Absicht ist, Ulrich von Hütten in sei¬ ner Zeit einfach und treu vorzuführen. Durch seine Handlungen und Schriften laß' ich ihn selbst sprechen, ohne dem Urtheil des Le¬ sers durch lange Betrachtungen und Reflexionen vorgreifen zu wol¬ len und dasselbe vielleicht gar dadurch zu verdunkeln," so hat er sich damit zwar selbst auf den rein historischen Standpunkt confinirt, aber damit ist die Frage, ob er mit dieser Beschränkung recht gethan, oder ob er nicht vielleicht dadurch der zeitgemäßen Bedeutsamkett seines Wer¬ kes die treffende Spitze abgebrochen, die einschneidende Schärfe abge¬ stumpft habe, noch keineswegs zu seinen Gunsten beantwortet. Es mag wohl wahr sein, daß ein allzu tendenziöses Hervorheben derar¬ tiger Zeitbeziehungen oftmals zu einer Verstimmung des Lesers füh¬ ren kann, wenn dieser sieht, daß der Autor , ihm eine eigne geistige Mitwirkung bei dem allseitigen Verständnisse seines Werkes durchaus nicht hat zugestehen und übrig lassen wollen; allein zwischen einem indiscreten Fingerdeuten und dem starre», schweigenden Geschlossenst'«» der Faust liegt noch die goldne Mittelstraße der leichten, freien Hand¬ bewegung. Oftmals wird uns eine Illusion zerstört, wenn ein ferner Waldrücken, der mit blauem Dufte unsern nach dem Horizonte schwei¬ fenden Blick hemmt, durch das Objectivglas eines Fernrohrs dicht vor unser Auge gestellt wird, und wir nun statt einer sanft geschlunge¬ nen Wellenlinie plötzlich einige Tannenwipfel vor uns sehen; wan¬ deln wir aber auf jenem waldigen Bergrücken selbst, jetzt immer nur mitten unter Stämmen, dann freuen wir uns, wenn die leitende Hand des ortskundigen Führers uns plötzlich zu einer Lichtung führt, wo sich uns eine Aussicht eröffnet, und dann wieder zu einer andern, wo wir wieder Neues erblicken und so fort und fort, daß wir Bild an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/572>, abgerufen am 24.11.2024.