Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ten, eine gewisse Entwicklung und natürliche Fortbildung dem Ganzen
wie dem Individuum gewahrt. -- Jene Bühnenzerrissenheit ist es denn
auch, welche namentlich auf das Repertoir des recitirenden Schauspiels
so nachtheilig einwirkt und keine bestimmte Haltung, keinen rein ästhe¬
tischen Charakter zuläßt. Früher, als die theatralische Windrose noch
nicht so ausgebildet war, als man noch nicht das Verschiedenste, in der
Mannichfaltigkeit Unerhörte, versucht und gewagt hatte, als für jede Gat¬
tung noch das Gesetz der einfachen Kraft galt, da war das anders. Man
konnte eine dramatische Weltliteratur auf der Bühne repräsentiren,
weil man die Oper noch nicht mit den Augen des Drama's, das Drama
nicht mit den Augen der Oper ansah, und man konnte daher von einem
"Geschmack" reden. Das Wort Weltliteratur ist in neuerer Zeit, wo
man durchaus "national" und nichts als national sein will, etwas in
Verruf gekommen; aber die Aufgabe der Bühne scheint mir durchaus
darin zu liegen, daß sie die Blüthe der dramatischen Literatur aller Na¬
tionen, der Deutschen, Engländer, Franzosen, Spanier, Italiener, selbst
der Ungarn und Dänen uns vorführt und möglicher Weise zu einem
Strauß vereinigt, daß die verschiedenen Nationalcharakteristiken mit ein¬
ander in Conflict treten, und so theils Reiz, Interesse und Bildung er¬
wecken, theils Ideen entwickeln hilft, die dem Geschmack ein festes Be¬
wußtsein geben. Von vielen Seiten zwar fürchtet man solche Confrön-
tation der Muster, man wehrt sich mit Händen und Füßen gegen das
Möglichmachen von Vergleichungen, doch, wie ich fest überzeugt bin, zum
eigenen Schaden. Manches unserer neuen Stücke würde nicht so leer
an Ideen, oder wenigstens nicht so einseitig daran sein, die Form würde
nicht so sehr in eine triviale, monotone Fläche ausarten, wenn eine größere
Reibung der verschiedenen Richtungen stattfände. Es ist dieser Furcht
und Scheu vor Vergleichungen und Mustern nur zu leicht nachzuweisen,
daß sie durchaus mit dem Dilettantismus gemeinschaftliche Sache macht.
Auf einer öden, einsamen Insel mag jeder Strauch sich leicht für eine
Königseiche halten; dort ist es leicht, sich geltend zu machen, weil höhere
Beispiele und Vergleiche fehlen. Die allgemeine Bühnenzerrissenheit be¬
günstigt diese stolze Selbstgenügsamkeit, und die letztere kann auf Mo¬
dernität pochen, weil sie allerdings eine andere Färbung trägt, als die
wenigen Muster, welche schon als Tradition Gleichgültigkeit erregt haben
und doch in kalter, nackter, zusammenhangloser Form wiederholt werden.
Aber vermögen denn die den "Geschmack" des Publicums in ihrer ewi¬
gen Einerleiheit zu erhalten, vermögen denn die das Bewußtsein aus
der Lethargie zu erwecken?


II.
Aus Berlin.
I.

Nachtigallen und Raben. -- Arme Leute! -- Die Oper. -- Vossische Zei¬
tung. -- Ein in's Ausland flüchtender "Einsender."

Mit den heutigen berliner Zeitungen vom 16. Juni ist als Beilage
das "Reglement über die Erhebung der Nachtigallensteuer in Berlin"


ten, eine gewisse Entwicklung und natürliche Fortbildung dem Ganzen
wie dem Individuum gewahrt. — Jene Bühnenzerrissenheit ist es denn
auch, welche namentlich auf das Repertoir des recitirenden Schauspiels
so nachtheilig einwirkt und keine bestimmte Haltung, keinen rein ästhe¬
tischen Charakter zuläßt. Früher, als die theatralische Windrose noch
nicht so ausgebildet war, als man noch nicht das Verschiedenste, in der
Mannichfaltigkeit Unerhörte, versucht und gewagt hatte, als für jede Gat¬
tung noch das Gesetz der einfachen Kraft galt, da war das anders. Man
konnte eine dramatische Weltliteratur auf der Bühne repräsentiren,
weil man die Oper noch nicht mit den Augen des Drama's, das Drama
nicht mit den Augen der Oper ansah, und man konnte daher von einem
„Geschmack" reden. Das Wort Weltliteratur ist in neuerer Zeit, wo
man durchaus „national" und nichts als national sein will, etwas in
Verruf gekommen; aber die Aufgabe der Bühne scheint mir durchaus
darin zu liegen, daß sie die Blüthe der dramatischen Literatur aller Na¬
tionen, der Deutschen, Engländer, Franzosen, Spanier, Italiener, selbst
der Ungarn und Dänen uns vorführt und möglicher Weise zu einem
Strauß vereinigt, daß die verschiedenen Nationalcharakteristiken mit ein¬
ander in Conflict treten, und so theils Reiz, Interesse und Bildung er¬
wecken, theils Ideen entwickeln hilft, die dem Geschmack ein festes Be¬
wußtsein geben. Von vielen Seiten zwar fürchtet man solche Confrön-
tation der Muster, man wehrt sich mit Händen und Füßen gegen das
Möglichmachen von Vergleichungen, doch, wie ich fest überzeugt bin, zum
eigenen Schaden. Manches unserer neuen Stücke würde nicht so leer
an Ideen, oder wenigstens nicht so einseitig daran sein, die Form würde
nicht so sehr in eine triviale, monotone Fläche ausarten, wenn eine größere
Reibung der verschiedenen Richtungen stattfände. Es ist dieser Furcht
und Scheu vor Vergleichungen und Mustern nur zu leicht nachzuweisen,
daß sie durchaus mit dem Dilettantismus gemeinschaftliche Sache macht.
Auf einer öden, einsamen Insel mag jeder Strauch sich leicht für eine
Königseiche halten; dort ist es leicht, sich geltend zu machen, weil höhere
Beispiele und Vergleiche fehlen. Die allgemeine Bühnenzerrissenheit be¬
günstigt diese stolze Selbstgenügsamkeit, und die letztere kann auf Mo¬
dernität pochen, weil sie allerdings eine andere Färbung trägt, als die
wenigen Muster, welche schon als Tradition Gleichgültigkeit erregt haben
und doch in kalter, nackter, zusammenhangloser Form wiederholt werden.
Aber vermögen denn die den „Geschmack" des Publicums in ihrer ewi¬
gen Einerleiheit zu erhalten, vermögen denn die das Bewußtsein aus
der Lethargie zu erwecken?


II.
Aus Berlin.
I.

Nachtigallen und Raben. — Arme Leute! — Die Oper. — Vossische Zei¬
tung. — Ein in's Ausland flüchtender „Einsender."

Mit den heutigen berliner Zeitungen vom 16. Juni ist als Beilage
das „Reglement über die Erhebung der Nachtigallensteuer in Berlin"


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0540" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182963"/>
            <p xml:id="ID_1661" prev="#ID_1660"> ten, eine gewisse Entwicklung und natürliche Fortbildung dem Ganzen<lb/>
wie dem Individuum gewahrt. &#x2014; Jene Bühnenzerrissenheit ist es denn<lb/>
auch, welche namentlich auf das Repertoir des recitirenden Schauspiels<lb/>
so nachtheilig einwirkt und keine bestimmte Haltung, keinen rein ästhe¬<lb/>
tischen Charakter zuläßt. Früher, als die theatralische Windrose noch<lb/>
nicht so ausgebildet war, als man noch nicht das Verschiedenste, in der<lb/>
Mannichfaltigkeit Unerhörte, versucht und gewagt hatte, als für jede Gat¬<lb/>
tung noch das Gesetz der einfachen Kraft galt, da war das anders. Man<lb/>
konnte eine dramatische Weltliteratur auf der Bühne repräsentiren,<lb/>
weil man die Oper noch nicht mit den Augen des Drama's, das Drama<lb/>
nicht mit den Augen der Oper ansah, und man konnte daher von einem<lb/>
&#x201E;Geschmack" reden. Das Wort Weltliteratur ist in neuerer Zeit, wo<lb/>
man durchaus &#x201E;national" und nichts als national sein will, etwas in<lb/>
Verruf gekommen; aber die Aufgabe der Bühne scheint mir durchaus<lb/>
darin zu liegen, daß sie die Blüthe der dramatischen Literatur aller Na¬<lb/>
tionen, der Deutschen, Engländer, Franzosen, Spanier, Italiener, selbst<lb/>
der Ungarn und Dänen uns vorführt und möglicher Weise zu einem<lb/>
Strauß vereinigt, daß die verschiedenen Nationalcharakteristiken mit ein¬<lb/>
ander in Conflict treten, und so theils Reiz, Interesse und Bildung er¬<lb/>
wecken, theils Ideen entwickeln hilft, die dem Geschmack ein festes Be¬<lb/>
wußtsein geben. Von vielen Seiten zwar fürchtet man solche Confrön-<lb/>
tation der Muster, man wehrt sich mit Händen und Füßen gegen das<lb/>
Möglichmachen von Vergleichungen, doch, wie ich fest überzeugt bin, zum<lb/>
eigenen Schaden. Manches unserer neuen Stücke würde nicht so leer<lb/>
an Ideen, oder wenigstens nicht so einseitig daran sein, die Form würde<lb/>
nicht so sehr in eine triviale, monotone Fläche ausarten, wenn eine größere<lb/>
Reibung der verschiedenen Richtungen stattfände. Es ist dieser Furcht<lb/>
und Scheu vor Vergleichungen und Mustern nur zu leicht nachzuweisen,<lb/>
daß sie durchaus mit dem Dilettantismus gemeinschaftliche Sache macht.<lb/>
Auf einer öden, einsamen Insel mag jeder Strauch sich leicht für eine<lb/>
Königseiche halten; dort ist es leicht, sich geltend zu machen, weil höhere<lb/>
Beispiele und Vergleiche fehlen. Die allgemeine Bühnenzerrissenheit be¬<lb/>
günstigt diese stolze Selbstgenügsamkeit, und die letztere kann auf Mo¬<lb/>
dernität pochen, weil sie allerdings eine andere Färbung trägt, als die<lb/>
wenigen Muster, welche schon als Tradition Gleichgültigkeit erregt haben<lb/>
und doch in kalter, nackter, zusammenhangloser Form wiederholt werden.<lb/>
Aber vermögen denn die den &#x201E;Geschmack" des Publicums in ihrer ewi¬<lb/>
gen Einerleiheit zu erhalten, vermögen denn die das Bewußtsein aus<lb/>
der Lethargie zu erwecken?</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> II.<lb/>
Aus Berlin.</head><lb/>
            <div n="3">
              <head> I.</head><lb/>
              <note type="argument"> Nachtigallen und Raben. &#x2014; Arme Leute! &#x2014; Die Oper. &#x2014; Vossische Zei¬<lb/>
tung. &#x2014; Ein in's Ausland flüchtender &#x201E;Einsender."</note><lb/>
              <p xml:id="ID_1662" next="#ID_1663"> Mit den heutigen berliner Zeitungen vom 16. Juni ist als Beilage<lb/>
das &#x201E;Reglement über die Erhebung der Nachtigallensteuer in Berlin"</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0540] ten, eine gewisse Entwicklung und natürliche Fortbildung dem Ganzen wie dem Individuum gewahrt. — Jene Bühnenzerrissenheit ist es denn auch, welche namentlich auf das Repertoir des recitirenden Schauspiels so nachtheilig einwirkt und keine bestimmte Haltung, keinen rein ästhe¬ tischen Charakter zuläßt. Früher, als die theatralische Windrose noch nicht so ausgebildet war, als man noch nicht das Verschiedenste, in der Mannichfaltigkeit Unerhörte, versucht und gewagt hatte, als für jede Gat¬ tung noch das Gesetz der einfachen Kraft galt, da war das anders. Man konnte eine dramatische Weltliteratur auf der Bühne repräsentiren, weil man die Oper noch nicht mit den Augen des Drama's, das Drama nicht mit den Augen der Oper ansah, und man konnte daher von einem „Geschmack" reden. Das Wort Weltliteratur ist in neuerer Zeit, wo man durchaus „national" und nichts als national sein will, etwas in Verruf gekommen; aber die Aufgabe der Bühne scheint mir durchaus darin zu liegen, daß sie die Blüthe der dramatischen Literatur aller Na¬ tionen, der Deutschen, Engländer, Franzosen, Spanier, Italiener, selbst der Ungarn und Dänen uns vorführt und möglicher Weise zu einem Strauß vereinigt, daß die verschiedenen Nationalcharakteristiken mit ein¬ ander in Conflict treten, und so theils Reiz, Interesse und Bildung er¬ wecken, theils Ideen entwickeln hilft, die dem Geschmack ein festes Be¬ wußtsein geben. Von vielen Seiten zwar fürchtet man solche Confrön- tation der Muster, man wehrt sich mit Händen und Füßen gegen das Möglichmachen von Vergleichungen, doch, wie ich fest überzeugt bin, zum eigenen Schaden. Manches unserer neuen Stücke würde nicht so leer an Ideen, oder wenigstens nicht so einseitig daran sein, die Form würde nicht so sehr in eine triviale, monotone Fläche ausarten, wenn eine größere Reibung der verschiedenen Richtungen stattfände. Es ist dieser Furcht und Scheu vor Vergleichungen und Mustern nur zu leicht nachzuweisen, daß sie durchaus mit dem Dilettantismus gemeinschaftliche Sache macht. Auf einer öden, einsamen Insel mag jeder Strauch sich leicht für eine Königseiche halten; dort ist es leicht, sich geltend zu machen, weil höhere Beispiele und Vergleiche fehlen. Die allgemeine Bühnenzerrissenheit be¬ günstigt diese stolze Selbstgenügsamkeit, und die letztere kann auf Mo¬ dernität pochen, weil sie allerdings eine andere Färbung trägt, als die wenigen Muster, welche schon als Tradition Gleichgültigkeit erregt haben und doch in kalter, nackter, zusammenhangloser Form wiederholt werden. Aber vermögen denn die den „Geschmack" des Publicums in ihrer ewi¬ gen Einerleiheit zu erhalten, vermögen denn die das Bewußtsein aus der Lethargie zu erwecken? II. Aus Berlin. I. Nachtigallen und Raben. — Arme Leute! — Die Oper. — Vossische Zei¬ tung. — Ein in's Ausland flüchtender „Einsender." Mit den heutigen berliner Zeitungen vom 16. Juni ist als Beilage das „Reglement über die Erhebung der Nachtigallensteuer in Berlin"

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/540
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/540>, abgerufen am 24.11.2024.