Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.seiner Stimme. Den ersten Theil hatte er mit den nachdrücklichen III. Mit jedem Tage wird es mir klarer, daß es eine ganz irrige seiner Stimme. Den ersten Theil hatte er mit den nachdrücklichen III. Mit jedem Tage wird es mir klarer, daß es eine ganz irrige <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0489" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182912"/> <p xml:id="ID_1418" prev="#ID_1417"> seiner Stimme. Den ersten Theil hatte er mit den nachdrücklichen<lb/> Worten des Textes geschlossen — mit denselben endete er den schon<lb/> in fistelartigen Lauten vorgetragenen zweiten, und nun ging es zum<lb/> Schluß. ES war ersichtlich, daß dieser, um nicht hinter Anfang und<lb/> Mitte zurückzubleiben, bedeutender werden sollte. Schon der schreiende<lb/> Sopran der Stimme deutete darauf hin. Noch etwa drei Minuten,<lb/> dann hielt er Erwartung erregend inne und „also hat Gott die Welt<lb/> geliebt, daß er euch seinen eingebornen Sohn gegeben, ja, andächtige<lb/> Zuhörer! — also hat Gott die Welt geliebt, daß, wenn er mehr Söhne<lb/> gehabt, er in seiner unerschöpflichen Gnade sie euch alle gegeben hätte.<lb/> Amen! schallt es von der Kanzel herunter. Mich übergoß es blut¬<lb/> roth. Ich hätte vor Lachen aufschreien mögen, aber eine unerklärliche<lb/> Scham und Verlegenheit drängte es zurück. Kaum wagte ich, auf¬<lb/> zublicken, um nicht durch den Anblick der Mienen Anderer dennoch<lb/> dazu veranlaßt zu werden, — aber meine Beforgniß war unnöthig.<lb/> Die andächtige Gemeinde saß grade noch ebenso unbewegt und stand<lb/> glotzend da, wie vor dem. Ich schien der Einzige zu sein, der die<lb/> colossale Dummheit gemerkt hatte. Seitdem bin ich im Voraus mit<lb/> Allem ausgesöhnt, was mir hier noch etwa begegnen'mag.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> III.</head><lb/> <p xml:id="ID_1419" next="#ID_1420"> Mit jedem Tage wird es mir klarer, daß es eine ganz irrige<lb/> Ansicht ist, welche die kleinen Städte für Sitze der Gemüthlichkeit und<lb/> Natürlichkett hält. Es ist nirgends mehr Gemachtes, nirgends mehr Un¬<lb/> wahres, als grade da zu finden. In den Hauptstädten hat die Ci¬<lb/> vilisation gar manches Uebel im Gefolge — aber das Gute überwiegt<lb/> doch bei weitem. Eine gewisse Sentimentalität meint freilich auch<lb/> darüber noch klagen zu dürfen, daß das Licht wieder Schatten be¬<lb/> dinge, oder die Idylle, in welche sie das Epos des Lebens umwan¬<lb/> deln möchte, trägt gar zu sehr das Gepräge ihrer eigenen langen<lb/> Weile und Dürftigkeit, als daß sie nicht anwidern sollte. Mag sein, daß<lb/> die steigende Cultur viel Verschrobenes und Gekünsteltes zu Tage för¬<lb/> dert, so erhöht und verklärt sie doch auch viel mehr die wahre Natürlich¬<lb/> keit, veredelt die Empfindungen, erweitert und vergeistigt die Genüsse.<lb/> Man muß in einem Neste wie N. leben, um das gehörig zu würdi¬<lb/> gen. Hier ist Alles organisirt, weil sklavisch nachgeahmt. Um jeden<lb/> Preis will man Bildung zeigen — aber diese ist ein Gewächs einer<lb/> fremden Zone, das hier nur verkrüppelt fortkommt. Es ist am Ende<lb/> nicht mehr als natürlich, daß ein so stagnirendes Leben, als das hie-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0489]
seiner Stimme. Den ersten Theil hatte er mit den nachdrücklichen
Worten des Textes geschlossen — mit denselben endete er den schon
in fistelartigen Lauten vorgetragenen zweiten, und nun ging es zum
Schluß. ES war ersichtlich, daß dieser, um nicht hinter Anfang und
Mitte zurückzubleiben, bedeutender werden sollte. Schon der schreiende
Sopran der Stimme deutete darauf hin. Noch etwa drei Minuten,
dann hielt er Erwartung erregend inne und „also hat Gott die Welt
geliebt, daß er euch seinen eingebornen Sohn gegeben, ja, andächtige
Zuhörer! — also hat Gott die Welt geliebt, daß, wenn er mehr Söhne
gehabt, er in seiner unerschöpflichen Gnade sie euch alle gegeben hätte.
Amen! schallt es von der Kanzel herunter. Mich übergoß es blut¬
roth. Ich hätte vor Lachen aufschreien mögen, aber eine unerklärliche
Scham und Verlegenheit drängte es zurück. Kaum wagte ich, auf¬
zublicken, um nicht durch den Anblick der Mienen Anderer dennoch
dazu veranlaßt zu werden, — aber meine Beforgniß war unnöthig.
Die andächtige Gemeinde saß grade noch ebenso unbewegt und stand
glotzend da, wie vor dem. Ich schien der Einzige zu sein, der die
colossale Dummheit gemerkt hatte. Seitdem bin ich im Voraus mit
Allem ausgesöhnt, was mir hier noch etwa begegnen'mag.
III.
Mit jedem Tage wird es mir klarer, daß es eine ganz irrige
Ansicht ist, welche die kleinen Städte für Sitze der Gemüthlichkeit und
Natürlichkett hält. Es ist nirgends mehr Gemachtes, nirgends mehr Un¬
wahres, als grade da zu finden. In den Hauptstädten hat die Ci¬
vilisation gar manches Uebel im Gefolge — aber das Gute überwiegt
doch bei weitem. Eine gewisse Sentimentalität meint freilich auch
darüber noch klagen zu dürfen, daß das Licht wieder Schatten be¬
dinge, oder die Idylle, in welche sie das Epos des Lebens umwan¬
deln möchte, trägt gar zu sehr das Gepräge ihrer eigenen langen
Weile und Dürftigkeit, als daß sie nicht anwidern sollte. Mag sein, daß
die steigende Cultur viel Verschrobenes und Gekünsteltes zu Tage för¬
dert, so erhöht und verklärt sie doch auch viel mehr die wahre Natürlich¬
keit, veredelt die Empfindungen, erweitert und vergeistigt die Genüsse.
Man muß in einem Neste wie N. leben, um das gehörig zu würdi¬
gen. Hier ist Alles organisirt, weil sklavisch nachgeahmt. Um jeden
Preis will man Bildung zeigen — aber diese ist ein Gewächs einer
fremden Zone, das hier nur verkrüppelt fortkommt. Es ist am Ende
nicht mehr als natürlich, daß ein so stagnirendes Leben, als das hie-
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