Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

würdigen Begebenheit aufgefrischt worden, ohne daß nicht Jeder still
sich seiner widersprechenden Meinung begeben. -- In den meisten
kleinen Städten, deren ich noch grade eine ziemliche Anzahl kennen ge¬
lernt, eristirt ein sogenanntes Genie, welches der Witzler, i>"vt.t I-a-
re.'dens und in-nero als xlaisir des Städtchens in einer Person ist, der
das Privileg hat, jedem Mädchen eine Zweideutigkeit zu sagen, die
ihr die Schamröthe in's Gesicht treibt, und was dergleichen dem
Geiste gern gestatteten Licenzen mehr sind. Gewöhnlich ist es der Bar¬
bier -- bisweilen wohl auch der Schulmeister, "ein wahrer Teufels¬
und Allerweltskerl." Hier in R. aber hat ein solcher bisher nicht
auskommen können; seine historische Erinnerung hat das Genie ge¬
ächtet. Ein neues Beispiel gegen allen Adel. Das Slimmste ist,
daß auch noch der geringste Zweifel an solcher Autorität und Mono¬
polwirthschaft selbst bet der Jugend nicht lebendig geworden. Andre Be¬
wegungen, als die peristaltischen, scheinen geradezu etwas Unerhörtes.


II.

Vorigen Sonntag bin ich in der Kirche gewesen. Ich habe von
jeher mein ganz absonderliches Vergnügen daran gehabt, die bunte Menge
zu schauen, und Du wirst einsehen müssen, daß dazu nirgends mehr
Gelegenheit geboten, als in den Kirchen. Du magst sonst hingehen,
wohin Du immer willst, nach den öffentlichen Gärten, in Tanz¬
säle u. dergl., Du findest immer nur die einzelnen Stände zusammen.
Nun hat das freilich auch seinen großen Reiz, die Menschen in ih¬
ren eigenthümlichen Kreisen, oder "unter sich" zu sehen -- sie sind
da weit freier und ungenirter, aber pikanter und mannichfaltiger ist
jedenfalls das Bild des Ganzen. Gleichwohl sollte für diesmal sein
Eindruck nicht verloren gehen -- oder ein stärkerer ihn überwiegen.
Und nunmehr, welcher? Die Augen eines Mädchens? El für so
ausnehmend fade wirst Du mich doch wohl nicht halten, daß ich Dir
den abgeschmackten Helden eines eben nicht neu erfundenen Romans
abgeben sollte. Ein Mädchen war es so wenig, als die vielen Holz¬
engel, die mit gar kunstreichen Schnörkeln am Altare angebracht sind.
-- Um Dich nicht länger rathen zu lassen, was Du doch nimmer
räthst, es war die Predigt selber. Tert war: Also hat Gott die Welt
geliebt, daß er euch seinen eingeborenen Sohn gegeben hat ze. Hatte
ich anfangs wenig darauf geachtet, so nahm doch bald der anschwel¬
lende Ton der Rede meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Der Redner
hatte ziemlich tief begonnen, mit jedem Satze steigerte sich der Ton


würdigen Begebenheit aufgefrischt worden, ohne daß nicht Jeder still
sich seiner widersprechenden Meinung begeben. — In den meisten
kleinen Städten, deren ich noch grade eine ziemliche Anzahl kennen ge¬
lernt, eristirt ein sogenanntes Genie, welches der Witzler, i>»vt.t I-a-
re.'dens und in-nero als xlaisir des Städtchens in einer Person ist, der
das Privileg hat, jedem Mädchen eine Zweideutigkeit zu sagen, die
ihr die Schamröthe in's Gesicht treibt, und was dergleichen dem
Geiste gern gestatteten Licenzen mehr sind. Gewöhnlich ist es der Bar¬
bier — bisweilen wohl auch der Schulmeister, „ein wahrer Teufels¬
und Allerweltskerl." Hier in R. aber hat ein solcher bisher nicht
auskommen können; seine historische Erinnerung hat das Genie ge¬
ächtet. Ein neues Beispiel gegen allen Adel. Das Slimmste ist,
daß auch noch der geringste Zweifel an solcher Autorität und Mono¬
polwirthschaft selbst bet der Jugend nicht lebendig geworden. Andre Be¬
wegungen, als die peristaltischen, scheinen geradezu etwas Unerhörtes.


II.

Vorigen Sonntag bin ich in der Kirche gewesen. Ich habe von
jeher mein ganz absonderliches Vergnügen daran gehabt, die bunte Menge
zu schauen, und Du wirst einsehen müssen, daß dazu nirgends mehr
Gelegenheit geboten, als in den Kirchen. Du magst sonst hingehen,
wohin Du immer willst, nach den öffentlichen Gärten, in Tanz¬
säle u. dergl., Du findest immer nur die einzelnen Stände zusammen.
Nun hat das freilich auch seinen großen Reiz, die Menschen in ih¬
ren eigenthümlichen Kreisen, oder „unter sich" zu sehen — sie sind
da weit freier und ungenirter, aber pikanter und mannichfaltiger ist
jedenfalls das Bild des Ganzen. Gleichwohl sollte für diesmal sein
Eindruck nicht verloren gehen — oder ein stärkerer ihn überwiegen.
Und nunmehr, welcher? Die Augen eines Mädchens? El für so
ausnehmend fade wirst Du mich doch wohl nicht halten, daß ich Dir
den abgeschmackten Helden eines eben nicht neu erfundenen Romans
abgeben sollte. Ein Mädchen war es so wenig, als die vielen Holz¬
engel, die mit gar kunstreichen Schnörkeln am Altare angebracht sind.
— Um Dich nicht länger rathen zu lassen, was Du doch nimmer
räthst, es war die Predigt selber. Tert war: Also hat Gott die Welt
geliebt, daß er euch seinen eingeborenen Sohn gegeben hat ze. Hatte
ich anfangs wenig darauf geachtet, so nahm doch bald der anschwel¬
lende Ton der Rede meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Der Redner
hatte ziemlich tief begonnen, mit jedem Satze steigerte sich der Ton


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0488" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182911"/>
            <p xml:id="ID_1416" prev="#ID_1415"> würdigen Begebenheit aufgefrischt worden, ohne daß nicht Jeder still<lb/>
sich seiner widersprechenden Meinung begeben. &#x2014; In den meisten<lb/>
kleinen Städten, deren ich noch grade eine ziemliche Anzahl kennen ge¬<lb/>
lernt, eristirt ein sogenanntes Genie, welches der Witzler, i&gt;»vt.t I-a-<lb/>
re.'dens und in-nero als xlaisir des Städtchens in einer Person ist, der<lb/>
das Privileg hat, jedem Mädchen eine Zweideutigkeit zu sagen, die<lb/>
ihr die Schamröthe in's Gesicht treibt, und was dergleichen dem<lb/>
Geiste gern gestatteten Licenzen mehr sind. Gewöhnlich ist es der Bar¬<lb/>
bier &#x2014; bisweilen wohl auch der Schulmeister, &#x201E;ein wahrer Teufels¬<lb/>
und Allerweltskerl." Hier in R. aber hat ein solcher bisher nicht<lb/>
auskommen können; seine historische Erinnerung hat das Genie ge¬<lb/>
ächtet. Ein neues Beispiel gegen allen Adel. Das Slimmste ist,<lb/>
daß auch noch der geringste Zweifel an solcher Autorität und Mono¬<lb/>
polwirthschaft selbst bet der Jugend nicht lebendig geworden. Andre Be¬<lb/>
wegungen, als die peristaltischen, scheinen geradezu etwas Unerhörtes.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> II.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1417" next="#ID_1418"> Vorigen Sonntag bin ich in der Kirche gewesen. Ich habe von<lb/>
jeher mein ganz absonderliches Vergnügen daran gehabt, die bunte Menge<lb/>
zu schauen, und Du wirst einsehen müssen, daß dazu nirgends mehr<lb/>
Gelegenheit geboten, als in den Kirchen. Du magst sonst hingehen,<lb/>
wohin Du immer willst, nach den öffentlichen Gärten, in Tanz¬<lb/>
säle u. dergl., Du findest immer nur die einzelnen Stände zusammen.<lb/>
Nun hat das freilich auch seinen großen Reiz, die Menschen in ih¬<lb/>
ren eigenthümlichen Kreisen, oder &#x201E;unter sich" zu sehen &#x2014; sie sind<lb/>
da weit freier und ungenirter, aber pikanter und mannichfaltiger ist<lb/>
jedenfalls das Bild des Ganzen. Gleichwohl sollte für diesmal sein<lb/>
Eindruck nicht verloren gehen &#x2014; oder ein stärkerer ihn überwiegen.<lb/>
Und nunmehr, welcher? Die Augen eines Mädchens? El für so<lb/>
ausnehmend fade wirst Du mich doch wohl nicht halten, daß ich Dir<lb/>
den abgeschmackten Helden eines eben nicht neu erfundenen Romans<lb/>
abgeben sollte. Ein Mädchen war es so wenig, als die vielen Holz¬<lb/>
engel, die mit gar kunstreichen Schnörkeln am Altare angebracht sind.<lb/>
&#x2014; Um Dich nicht länger rathen zu lassen, was Du doch nimmer<lb/>
räthst, es war die Predigt selber. Tert war: Also hat Gott die Welt<lb/>
geliebt, daß er euch seinen eingeborenen Sohn gegeben hat ze. Hatte<lb/>
ich anfangs wenig darauf geachtet, so nahm doch bald der anschwel¬<lb/>
lende Ton der Rede meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Der Redner<lb/>
hatte ziemlich tief begonnen, mit jedem Satze steigerte sich der Ton</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0488] würdigen Begebenheit aufgefrischt worden, ohne daß nicht Jeder still sich seiner widersprechenden Meinung begeben. — In den meisten kleinen Städten, deren ich noch grade eine ziemliche Anzahl kennen ge¬ lernt, eristirt ein sogenanntes Genie, welches der Witzler, i>»vt.t I-a- re.'dens und in-nero als xlaisir des Städtchens in einer Person ist, der das Privileg hat, jedem Mädchen eine Zweideutigkeit zu sagen, die ihr die Schamröthe in's Gesicht treibt, und was dergleichen dem Geiste gern gestatteten Licenzen mehr sind. Gewöhnlich ist es der Bar¬ bier — bisweilen wohl auch der Schulmeister, „ein wahrer Teufels¬ und Allerweltskerl." Hier in R. aber hat ein solcher bisher nicht auskommen können; seine historische Erinnerung hat das Genie ge¬ ächtet. Ein neues Beispiel gegen allen Adel. Das Slimmste ist, daß auch noch der geringste Zweifel an solcher Autorität und Mono¬ polwirthschaft selbst bet der Jugend nicht lebendig geworden. Andre Be¬ wegungen, als die peristaltischen, scheinen geradezu etwas Unerhörtes. II. Vorigen Sonntag bin ich in der Kirche gewesen. Ich habe von jeher mein ganz absonderliches Vergnügen daran gehabt, die bunte Menge zu schauen, und Du wirst einsehen müssen, daß dazu nirgends mehr Gelegenheit geboten, als in den Kirchen. Du magst sonst hingehen, wohin Du immer willst, nach den öffentlichen Gärten, in Tanz¬ säle u. dergl., Du findest immer nur die einzelnen Stände zusammen. Nun hat das freilich auch seinen großen Reiz, die Menschen in ih¬ ren eigenthümlichen Kreisen, oder „unter sich" zu sehen — sie sind da weit freier und ungenirter, aber pikanter und mannichfaltiger ist jedenfalls das Bild des Ganzen. Gleichwohl sollte für diesmal sein Eindruck nicht verloren gehen — oder ein stärkerer ihn überwiegen. Und nunmehr, welcher? Die Augen eines Mädchens? El für so ausnehmend fade wirst Du mich doch wohl nicht halten, daß ich Dir den abgeschmackten Helden eines eben nicht neu erfundenen Romans abgeben sollte. Ein Mädchen war es so wenig, als die vielen Holz¬ engel, die mit gar kunstreichen Schnörkeln am Altare angebracht sind. — Um Dich nicht länger rathen zu lassen, was Du doch nimmer räthst, es war die Predigt selber. Tert war: Also hat Gott die Welt geliebt, daß er euch seinen eingeborenen Sohn gegeben hat ze. Hatte ich anfangs wenig darauf geachtet, so nahm doch bald der anschwel¬ lende Ton der Rede meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Der Redner hatte ziemlich tief begonnen, mit jedem Satze steigerte sich der Ton

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/488
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/488>, abgerufen am 24.11.2024.