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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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seit Carl VIII. träumen und der bei der ersten besten Erinnerung wie¬
derkehrt. Die guten Schwärmer, sie wissen nicht, daß noch nicht überall
Bahnhöfe mächtiger sind als Kirchen, Klöster und Kanzleien. Man sorgt
wohl für den Handel, man baut wohl Eisenbahnen, aber dort, wo sie
die heilige Stille einer Sacristei stören, oder die Wurzeln eines alten
Stammbaumes beschädigen könnten, führt man sie klüglich auf Umwegen
vorbei, oder läßt sie umgebaut. Genua "soll uns nicht entzweien!"

In Kunst, Literatur, Theater und geselligem Leben -- nichts Neues
und bald wird es Todtenstille sein. Der Salon ist geschlossen, Char¬
lotte Grisi schwebt über den Canal, die Rachel geht mit tragischen Schrit¬
ten nach Holland und nicht, wie es in deutschen Zeitungen hieß, nach
Deutschland. -- Die große Welt zerstreut sich in hundert Bäder und
tausend Landhäuser und bald drückt Paris stille, dicke Schwüle. Die
unheimliche Zeit in Paris naht; wäre nicht noch Mahn auf der Welt,
es wäre nicht auszuhalten. Gestern ist Heine in die Pyrenäen gereist;
er bleibt vielleicht auch den Winter hindurch dort.


IV.
Notizen.

Don Carlos in Paris. -- Eine Verlegenheit in Deutschland. -- König und
Schriftsteller. -- Römische und französische Geschichte. -- Aus dem Leben eines
Tyeaterintcndantcn. -- Industrielle Künste. -- Ein neues Evangelium-

Und man sagt, die Franzosen haben kein Verständniß für deutsche
Poesie! Erst vorige Woche kam in Paris Schiller's Don Carlos auf dem
Theater de la Gallo zur Aufführung. Freilich hat der Uebersetzer sich
einige kleine Aenderungen erlauben müssen. Unter Andern hat er
die ganze Person des Marquis Posa aus dem Stücke ge¬
strichen! -- Dieser große Mann, dem das dankbare Deutschland eine
Ehrensäule schuldet, heißt Corman!

-- Die wiener Sonntagsblätter von Fränkl bringen jetzt ihre Nach¬
richten aus Deutschland unter der Ueberschrift: Aus deutscher Ferne. Die
Noth macht erfinderisch. Die meisten österreichischen Blätter schreiben:
Draußen in Deutschland, draußen im Ausland, als wenn Oesterreich nicht
deutsch wäre. Und doch gibt es tausend Fälle, wo es allerdings falsch
wäre, wenn man in Oesterreich sagen würde: bei uns in Deutschland.
Die Sonntagsblatter fühlen, welch ein trennender Schritt in dem Aus¬
drucke "draußen" liegt und suchen ihn so weit als möglich zu umgehen.
'

-- Die bekannten acht Sterne, die über Louis Philipps Haupt
schweben und ihn aus den Händen von acht Mördern retteten, haben
sich abermals bewährt. Der Wagen des Königs wäre dieser Tage bald
zerschmettert worden: sieben Pferde des Postzugs waren bereits gestürzt
und nur das achte, das aufrecht blieb, hielt die ganze Gewalt des Wa¬
gens. Der Jockei, der auf dem ersten Pferde saß, soll Schuld an dem
Unfall gewesen sein. Doch er kann sicher sein, nicht fortgejagt zu wer¬
den. Ein pariser Blatt machte unlängst die Bemerkung, daß man im
königlichen Haushalt mit mehrern Individuen unter der Dienerschaft,


seit Carl VIII. träumen und der bei der ersten besten Erinnerung wie¬
derkehrt. Die guten Schwärmer, sie wissen nicht, daß noch nicht überall
Bahnhöfe mächtiger sind als Kirchen, Klöster und Kanzleien. Man sorgt
wohl für den Handel, man baut wohl Eisenbahnen, aber dort, wo sie
die heilige Stille einer Sacristei stören, oder die Wurzeln eines alten
Stammbaumes beschädigen könnten, führt man sie klüglich auf Umwegen
vorbei, oder läßt sie umgebaut. Genua „soll uns nicht entzweien!"

In Kunst, Literatur, Theater und geselligem Leben — nichts Neues
und bald wird es Todtenstille sein. Der Salon ist geschlossen, Char¬
lotte Grisi schwebt über den Canal, die Rachel geht mit tragischen Schrit¬
ten nach Holland und nicht, wie es in deutschen Zeitungen hieß, nach
Deutschland. — Die große Welt zerstreut sich in hundert Bäder und
tausend Landhäuser und bald drückt Paris stille, dicke Schwüle. Die
unheimliche Zeit in Paris naht; wäre nicht noch Mahn auf der Welt,
es wäre nicht auszuhalten. Gestern ist Heine in die Pyrenäen gereist;
er bleibt vielleicht auch den Winter hindurch dort.


IV.
Notizen.

Don Carlos in Paris. — Eine Verlegenheit in Deutschland. — König und
Schriftsteller. — Römische und französische Geschichte. — Aus dem Leben eines
Tyeaterintcndantcn. — Industrielle Künste. — Ein neues Evangelium-

Und man sagt, die Franzosen haben kein Verständniß für deutsche
Poesie! Erst vorige Woche kam in Paris Schiller's Don Carlos auf dem
Theater de la Gallo zur Aufführung. Freilich hat der Uebersetzer sich
einige kleine Aenderungen erlauben müssen. Unter Andern hat er
die ganze Person des Marquis Posa aus dem Stücke ge¬
strichen! — Dieser große Mann, dem das dankbare Deutschland eine
Ehrensäule schuldet, heißt Corman!

— Die wiener Sonntagsblätter von Fränkl bringen jetzt ihre Nach¬
richten aus Deutschland unter der Ueberschrift: Aus deutscher Ferne. Die
Noth macht erfinderisch. Die meisten österreichischen Blätter schreiben:
Draußen in Deutschland, draußen im Ausland, als wenn Oesterreich nicht
deutsch wäre. Und doch gibt es tausend Fälle, wo es allerdings falsch
wäre, wenn man in Oesterreich sagen würde: bei uns in Deutschland.
Die Sonntagsblatter fühlen, welch ein trennender Schritt in dem Aus¬
drucke „draußen" liegt und suchen ihn so weit als möglich zu umgehen.
'

— Die bekannten acht Sterne, die über Louis Philipps Haupt
schweben und ihn aus den Händen von acht Mördern retteten, haben
sich abermals bewährt. Der Wagen des Königs wäre dieser Tage bald
zerschmettert worden: sieben Pferde des Postzugs waren bereits gestürzt
und nur das achte, das aufrecht blieb, hielt die ganze Gewalt des Wa¬
gens. Der Jockei, der auf dem ersten Pferde saß, soll Schuld an dem
Unfall gewesen sein. Doch er kann sicher sein, nicht fortgejagt zu wer¬
den. Ein pariser Blatt machte unlängst die Bemerkung, daß man im
königlichen Haushalt mit mehrern Individuen unter der Dienerschaft,


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[0458] seit Carl VIII. träumen und der bei der ersten besten Erinnerung wie¬ derkehrt. Die guten Schwärmer, sie wissen nicht, daß noch nicht überall Bahnhöfe mächtiger sind als Kirchen, Klöster und Kanzleien. Man sorgt wohl für den Handel, man baut wohl Eisenbahnen, aber dort, wo sie die heilige Stille einer Sacristei stören, oder die Wurzeln eines alten Stammbaumes beschädigen könnten, führt man sie klüglich auf Umwegen vorbei, oder läßt sie umgebaut. Genua „soll uns nicht entzweien!" In Kunst, Literatur, Theater und geselligem Leben — nichts Neues und bald wird es Todtenstille sein. Der Salon ist geschlossen, Char¬ lotte Grisi schwebt über den Canal, die Rachel geht mit tragischen Schrit¬ ten nach Holland und nicht, wie es in deutschen Zeitungen hieß, nach Deutschland. — Die große Welt zerstreut sich in hundert Bäder und tausend Landhäuser und bald drückt Paris stille, dicke Schwüle. Die unheimliche Zeit in Paris naht; wäre nicht noch Mahn auf der Welt, es wäre nicht auszuhalten. Gestern ist Heine in die Pyrenäen gereist; er bleibt vielleicht auch den Winter hindurch dort. IV. Notizen. Don Carlos in Paris. — Eine Verlegenheit in Deutschland. — König und Schriftsteller. — Römische und französische Geschichte. — Aus dem Leben eines Tyeaterintcndantcn. — Industrielle Künste. — Ein neues Evangelium- Und man sagt, die Franzosen haben kein Verständniß für deutsche Poesie! Erst vorige Woche kam in Paris Schiller's Don Carlos auf dem Theater de la Gallo zur Aufführung. Freilich hat der Uebersetzer sich einige kleine Aenderungen erlauben müssen. Unter Andern hat er die ganze Person des Marquis Posa aus dem Stücke ge¬ strichen! — Dieser große Mann, dem das dankbare Deutschland eine Ehrensäule schuldet, heißt Corman! — Die wiener Sonntagsblätter von Fränkl bringen jetzt ihre Nach¬ richten aus Deutschland unter der Ueberschrift: Aus deutscher Ferne. Die Noth macht erfinderisch. Die meisten österreichischen Blätter schreiben: Draußen in Deutschland, draußen im Ausland, als wenn Oesterreich nicht deutsch wäre. Und doch gibt es tausend Fälle, wo es allerdings falsch wäre, wenn man in Oesterreich sagen würde: bei uns in Deutschland. Die Sonntagsblatter fühlen, welch ein trennender Schritt in dem Aus¬ drucke „draußen" liegt und suchen ihn so weit als möglich zu umgehen. ' — Die bekannten acht Sterne, die über Louis Philipps Haupt schweben und ihn aus den Händen von acht Mördern retteten, haben sich abermals bewährt. Der Wagen des Königs wäre dieser Tage bald zerschmettert worden: sieben Pferde des Postzugs waren bereits gestürzt und nur das achte, das aufrecht blieb, hielt die ganze Gewalt des Wa¬ gens. Der Jockei, der auf dem ersten Pferde saß, soll Schuld an dem Unfall gewesen sein. Doch er kann sicher sein, nicht fortgejagt zu wer¬ den. Ein pariser Blatt machte unlängst die Bemerkung, daß man im königlichen Haushalt mit mehrern Individuen unter der Dienerschaft,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/458>, abgerufen am 24.11.2024.