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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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wofür Gründe auch nur sehr gezwungen herbeigeführt werden könnten.
Pommern steht in Beziehung auf Intelligenz im niedern Volke sehr
hoch: nur 1,34 vom Hundert der Recruten hatte keinen Schulunter¬
richt gesucht, und wenn auch in dieser Provinz die wenigsten blutigen
Verbrechen vorfielen, so stand sie doch in Beziehung auf die zur Unter¬
suchung gekommenen fleischlichen Verbrechen in vorderster Reihe. (Wie
viel dies für die Sittlichkeit einer Bevölkerung bedeutet oder nicht
bedeutet, darauf kommen wir noch zurück.) Die Provinz Brandenburg
lieferte nnter 100 Eingestellten nur 2,18, die keinen Schulunterricht
genossen hatten, und doch steht sie, trotz des wichtigen Umstandes, daß
sie Berlin, die große Pulsader der Monarchie, einschließt, in der Scala
der Verbrechen der Tödtungen lind der Fleischeslust erst auf der fünf¬
ten Stufe. --

Derselbe allgemeine Satz gilt aber auch für das Verbreche" des
Kindermordes, für sich betrachtet. Wenn wir für den Jntelligenzzu-
stand der Kindermörderinnen als maßgebend betrachten das Verhält¬
niß, in welchem die schulpflichtigelt Kinder die öffentlichen Schulen
besuchten, und unter denen mich die Mädchen (in einem Verhältniß
zu den Knaben wie 43 :45 mitbegriffen sind, so hat, nächst Sachsen,
Schlesien seiner weiblichen jugendlichen Bevölkerung am meisten Schul¬
unterricht zufließen lassen, Posen am wenigsten -- und doch zählen
beide Provinzen fast ganz gleich viele, und zwar die meisten Kinder¬
morde, d. h. etwa 7,4 auf eine Million Einwohner. In Preußen und
Pommern ist das Verhältniß des empfangenen Schulunterrichtes ganz
gleich, und dennoch zählt Preußen fast noch einmal so viel Kinder¬
morde, als Pommern.

Nicht einmal ergibt sich eine irgend bemerkenswerthe innere Be¬
ziehung der Selbstmorde, isolirt betrachtet, zu der Jntelligenzstufe einer
Volksmasse, wie man doch weit eher noch, als bei andern Verbrechen,
vorauszusetzen geneigt sein sollte, und ich kann, nach den obigen That¬
sachen, dem ehrwürdigen Hoffmann nicht beistimmen, wenn er sagt:
"wenn die niedere Bildung der großen Masse des Volkes auch
von einer geringern Empfindlichkeit des Ehrgefühls mehrentheils be¬
gleitet sein dürfte, so scheint ein hinreichender Grund dafür gefunden
zu sein, weshalb die Provinzen Preußen und Posen, nebst dem östli¬
chen Theil von Pommern und Oberschlesien in den Jahren 1820--
1839 nur zwischen 100-200 Selbstmorde auf 100,000 Lebende hat¬
ten, während in den Provinzen Brandenburg und Sachsen nebst


wofür Gründe auch nur sehr gezwungen herbeigeführt werden könnten.
Pommern steht in Beziehung auf Intelligenz im niedern Volke sehr
hoch: nur 1,34 vom Hundert der Recruten hatte keinen Schulunter¬
richt gesucht, und wenn auch in dieser Provinz die wenigsten blutigen
Verbrechen vorfielen, so stand sie doch in Beziehung auf die zur Unter¬
suchung gekommenen fleischlichen Verbrechen in vorderster Reihe. (Wie
viel dies für die Sittlichkeit einer Bevölkerung bedeutet oder nicht
bedeutet, darauf kommen wir noch zurück.) Die Provinz Brandenburg
lieferte nnter 100 Eingestellten nur 2,18, die keinen Schulunterricht
genossen hatten, und doch steht sie, trotz des wichtigen Umstandes, daß
sie Berlin, die große Pulsader der Monarchie, einschließt, in der Scala
der Verbrechen der Tödtungen lind der Fleischeslust erst auf der fünf¬
ten Stufe. —

Derselbe allgemeine Satz gilt aber auch für das Verbreche» des
Kindermordes, für sich betrachtet. Wenn wir für den Jntelligenzzu-
stand der Kindermörderinnen als maßgebend betrachten das Verhält¬
niß, in welchem die schulpflichtigelt Kinder die öffentlichen Schulen
besuchten, und unter denen mich die Mädchen (in einem Verhältniß
zu den Knaben wie 43 :45 mitbegriffen sind, so hat, nächst Sachsen,
Schlesien seiner weiblichen jugendlichen Bevölkerung am meisten Schul¬
unterricht zufließen lassen, Posen am wenigsten — und doch zählen
beide Provinzen fast ganz gleich viele, und zwar die meisten Kinder¬
morde, d. h. etwa 7,4 auf eine Million Einwohner. In Preußen und
Pommern ist das Verhältniß des empfangenen Schulunterrichtes ganz
gleich, und dennoch zählt Preußen fast noch einmal so viel Kinder¬
morde, als Pommern.

Nicht einmal ergibt sich eine irgend bemerkenswerthe innere Be¬
ziehung der Selbstmorde, isolirt betrachtet, zu der Jntelligenzstufe einer
Volksmasse, wie man doch weit eher noch, als bei andern Verbrechen,
vorauszusetzen geneigt sein sollte, und ich kann, nach den obigen That¬
sachen, dem ehrwürdigen Hoffmann nicht beistimmen, wenn er sagt:
„wenn die niedere Bildung der großen Masse des Volkes auch
von einer geringern Empfindlichkeit des Ehrgefühls mehrentheils be¬
gleitet sein dürfte, so scheint ein hinreichender Grund dafür gefunden
zu sein, weshalb die Provinzen Preußen und Posen, nebst dem östli¬
chen Theil von Pommern und Oberschlesien in den Jahren 1820—
1839 nur zwischen 100-200 Selbstmorde auf 100,000 Lebende hat¬
ten, während in den Provinzen Brandenburg und Sachsen nebst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/428>, abgerufen am 24.11.2024.