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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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pelter, der Mensch im Gefängniß, als entlassener Sträfling, als zum
Schaffst Verurtheilter -- das sind die großen Aufgaben, deren Lö¬
sung sich unsre, auf das Praktische hin gerichtete Zeit zum Ziele ge¬
setzt hat, die großen Zeitfragen, an deren Beantwortung sich rastlos
Wissenschaft und Tagespresse versuchen. Nach allen Richtungen, von
allen Facultäten werden diese "menschheitlicher" Fragen in Erwägung ge¬
zogen, und sie sind es würdig, die ernsteste Forschung allseitig anzu¬
regen. (Wer wollte behaupten, daß die Ergründung des scheinbar
geringfügigen Umstandes, der sich an solche Aufgaben knüpft, Verlorne
Zeit oder Mühe sei?) Auch die Psychologie hat aus der Höhe der
rein ideellen Sphären herabsteigen und sich erinnern müssen, daß sie
ein Zweig der Naturwissenschaften ist. Zu ihrem eigenen Heil mußte
sie sich die Anknüpfung an die Physiologie, und zum Heil der Mensch¬
heit muß sie sich in der neuesten Zeit, die die Eroberungen der Na¬
turwissenschaften täglich mehr dem praktischen Gebrauche nutzbar macht,
mehr und mehr die Anknüpfung an das praktische Leben gefallen las¬
sen. Nach diesen Gesichtspunkten, die mich bei den Forschungen lei¬
teten, deren Ergebnisse ich in den nachstehenden Blättern mittheile,
wird es nicht auffallen, wenn ich bei meinen psychologischen Studien
auf ein Thema kam, das auf den ersten Blick kaum vor das Forum
des Arztes zu gehören scheint, und wofür ich dennoch die Aufmerk¬
samkeit, namentlich gerichtlicher, oder in Gefangenanstalten und Irren¬
häusern fungirender Aerzte nicht ohne Erfolg in Anspruch zu nehmen
hoffen darf.

Es hat noch Niemand behauptet, daß es ein Zufall, wenn in
Corsica, Spanien, Sicilien, ja bis Neapel, Rom, selbst Mailand hinauf
der Meuchelmord aus Haß, Eifersucht u. s. w. ein ganz alltägliches
Verbrechen ist, während der Deutsche, der Scandinave, der Slawe sich
nur so höchst selten zu demselben hingezogen fühlt, und man ist viel¬
mehr darüber einig, daß hierbei die Racenverschiedenheit, wie die Ein¬
flüsse des Bodens und Klima's, die im Großen kaum von einander
getrennt gedacht werden können, einwirken. Höchst belehrend aber ist
es, zu sehen, wie auch die weit geringern Differenzen der Race und
des Klimas schon in Beziehung auf die verschiedenen Tendenzen zu
Verbrechen wirksam werden, und wie die "moralische Statistik" deshalb
nicht nur in den verschiedenen Ländern, sondern innerhalb der Gren¬
zen eines und desselben größern Landes so ganz verschiedene Ergeb¬
nisse liefert. Guerry, in einem, dem französischen Institut 1832 vor¬
gelegten Memoire über die Verbrechen in Frankreich, hat Frankreich


pelter, der Mensch im Gefängniß, als entlassener Sträfling, als zum
Schaffst Verurtheilter — das sind die großen Aufgaben, deren Lö¬
sung sich unsre, auf das Praktische hin gerichtete Zeit zum Ziele ge¬
setzt hat, die großen Zeitfragen, an deren Beantwortung sich rastlos
Wissenschaft und Tagespresse versuchen. Nach allen Richtungen, von
allen Facultäten werden diese „menschheitlicher" Fragen in Erwägung ge¬
zogen, und sie sind es würdig, die ernsteste Forschung allseitig anzu¬
regen. (Wer wollte behaupten, daß die Ergründung des scheinbar
geringfügigen Umstandes, der sich an solche Aufgaben knüpft, Verlorne
Zeit oder Mühe sei?) Auch die Psychologie hat aus der Höhe der
rein ideellen Sphären herabsteigen und sich erinnern müssen, daß sie
ein Zweig der Naturwissenschaften ist. Zu ihrem eigenen Heil mußte
sie sich die Anknüpfung an die Physiologie, und zum Heil der Mensch¬
heit muß sie sich in der neuesten Zeit, die die Eroberungen der Na¬
turwissenschaften täglich mehr dem praktischen Gebrauche nutzbar macht,
mehr und mehr die Anknüpfung an das praktische Leben gefallen las¬
sen. Nach diesen Gesichtspunkten, die mich bei den Forschungen lei¬
teten, deren Ergebnisse ich in den nachstehenden Blättern mittheile,
wird es nicht auffallen, wenn ich bei meinen psychologischen Studien
auf ein Thema kam, das auf den ersten Blick kaum vor das Forum
des Arztes zu gehören scheint, und wofür ich dennoch die Aufmerk¬
samkeit, namentlich gerichtlicher, oder in Gefangenanstalten und Irren¬
häusern fungirender Aerzte nicht ohne Erfolg in Anspruch zu nehmen
hoffen darf.

Es hat noch Niemand behauptet, daß es ein Zufall, wenn in
Corsica, Spanien, Sicilien, ja bis Neapel, Rom, selbst Mailand hinauf
der Meuchelmord aus Haß, Eifersucht u. s. w. ein ganz alltägliches
Verbrechen ist, während der Deutsche, der Scandinave, der Slawe sich
nur so höchst selten zu demselben hingezogen fühlt, und man ist viel¬
mehr darüber einig, daß hierbei die Racenverschiedenheit, wie die Ein¬
flüsse des Bodens und Klima's, die im Großen kaum von einander
getrennt gedacht werden können, einwirken. Höchst belehrend aber ist
es, zu sehen, wie auch die weit geringern Differenzen der Race und
des Klimas schon in Beziehung auf die verschiedenen Tendenzen zu
Verbrechen wirksam werden, und wie die „moralische Statistik" deshalb
nicht nur in den verschiedenen Ländern, sondern innerhalb der Gren¬
zen eines und desselben größern Landes so ganz verschiedene Ergeb¬
nisse liefert. Guerry, in einem, dem französischen Institut 1832 vor¬
gelegten Memoire über die Verbrechen in Frankreich, hat Frankreich


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[0418] pelter, der Mensch im Gefängniß, als entlassener Sträfling, als zum Schaffst Verurtheilter — das sind die großen Aufgaben, deren Lö¬ sung sich unsre, auf das Praktische hin gerichtete Zeit zum Ziele ge¬ setzt hat, die großen Zeitfragen, an deren Beantwortung sich rastlos Wissenschaft und Tagespresse versuchen. Nach allen Richtungen, von allen Facultäten werden diese „menschheitlicher" Fragen in Erwägung ge¬ zogen, und sie sind es würdig, die ernsteste Forschung allseitig anzu¬ regen. (Wer wollte behaupten, daß die Ergründung des scheinbar geringfügigen Umstandes, der sich an solche Aufgaben knüpft, Verlorne Zeit oder Mühe sei?) Auch die Psychologie hat aus der Höhe der rein ideellen Sphären herabsteigen und sich erinnern müssen, daß sie ein Zweig der Naturwissenschaften ist. Zu ihrem eigenen Heil mußte sie sich die Anknüpfung an die Physiologie, und zum Heil der Mensch¬ heit muß sie sich in der neuesten Zeit, die die Eroberungen der Na¬ turwissenschaften täglich mehr dem praktischen Gebrauche nutzbar macht, mehr und mehr die Anknüpfung an das praktische Leben gefallen las¬ sen. Nach diesen Gesichtspunkten, die mich bei den Forschungen lei¬ teten, deren Ergebnisse ich in den nachstehenden Blättern mittheile, wird es nicht auffallen, wenn ich bei meinen psychologischen Studien auf ein Thema kam, das auf den ersten Blick kaum vor das Forum des Arztes zu gehören scheint, und wofür ich dennoch die Aufmerk¬ samkeit, namentlich gerichtlicher, oder in Gefangenanstalten und Irren¬ häusern fungirender Aerzte nicht ohne Erfolg in Anspruch zu nehmen hoffen darf. Es hat noch Niemand behauptet, daß es ein Zufall, wenn in Corsica, Spanien, Sicilien, ja bis Neapel, Rom, selbst Mailand hinauf der Meuchelmord aus Haß, Eifersucht u. s. w. ein ganz alltägliches Verbrechen ist, während der Deutsche, der Scandinave, der Slawe sich nur so höchst selten zu demselben hingezogen fühlt, und man ist viel¬ mehr darüber einig, daß hierbei die Racenverschiedenheit, wie die Ein¬ flüsse des Bodens und Klima's, die im Großen kaum von einander getrennt gedacht werden können, einwirken. Höchst belehrend aber ist es, zu sehen, wie auch die weit geringern Differenzen der Race und des Klimas schon in Beziehung auf die verschiedenen Tendenzen zu Verbrechen wirksam werden, und wie die „moralische Statistik" deshalb nicht nur in den verschiedenen Ländern, sondern innerhalb der Gren¬ zen eines und desselben größern Landes so ganz verschiedene Ergeb¬ nisse liefert. Guerry, in einem, dem französischen Institut 1832 vor¬ gelegten Memoire über die Verbrechen in Frankreich, hat Frankreich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/418>, abgerufen am 23.07.2024.