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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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vertraute; -- und er vergaß es, und redete zu einem Mädchen, das
er für berufen hielt, ihn mit weichem und doch mit so unwiderstehlich
starkem Arm zu umklammern, um mit ihm einen Bund zu schließen,
welcher den Kämpfen seiner Seele und den tief verwundenden Waffen
des lauernden Egoismus trotzen sollte. Der Himmel umdüsterte sich
dunkler und drohender; -- Richard entwarf eine verständliche Schil¬
derung von dem heitern Glücke der Familien in G. und Reichenau,
das nicht zur Welt gehörte, und eben deswegen ein Sonntagskind der
Schöpfung sei. Marie, in deren Herzen so manche ungekannte Ge¬
fühle, so manche bisher nicht geahnte Neigungen unklar aufdämmerten
und mit der Oede des Alltagslebens, der instinctmäßigcn Gewohnheit
einen zweifelhaften Kampf um ihre Existenz kämpften, -- Marie glaubte,
es wäre nun endlich einmal an der Zeit, ein Wort für sich einzulegen,
eine bestimmte Entscheidung herbeizuführen. Schüchtern machte sie da¬
her den Versuch, etwas zu sagen und konnte immer den rechten Aus¬
druck nicht finden; sie wurde verlegen, gerieth in Verwirrung, verwik-
kelte sich in unverständliche Perioden, bis endlich klar und deutlich die
Frage hervorsprang: Wie lange denn wohl der Herr Doctor noch zu
warten habe, bis er im Stande sei, eine selbstständige Familie zu
gründen? --

Der Zeitpunkt war sehr unglücklich gewählt, die Gewitterwolken
durchzuckte eben der erste Blitz und hallte in dumpfem Donner nach.
Auch in Richard's Jnnern blitzte es ans, die Illusion war vorüber,
hell lag die Wirklichkeit vor ihm, auf seinem Munde zuckte Schmerz
und Spott, mitleidslos, zerstörend für ihn selbst und für das unglück¬
liche Opfer seiner Laune und absichtlichen Selbsttäuschung. Er wurde
sogar für sie verständlich, als er ihr zum Schluß sagte, wie das noch
lange anstehen müsse, wie er aber überzeugt sei, sie werde sich so gut
conserviren, daß ein jahrelanger Aufschub ihrer Heirathsfähigkeit keinen
Eintrag thun könne, zumal wenn sie die nöthige Diät beobachte und
fortfahre, ihrer kräftigen Konstitution jeden Abend die gesunde Motion
von G. nach Reichenau zu machen. Dieses waren seine letzten Worte;
der Regen floß in Strömen, Richard nahm mit einer stummen Ver-
neigung Abschied, in Mariens Auge zitterte eine Thräne. -- Es liegt
in dem Charakter der Männer eine rücksichtslose Härte, eine raffinirte
Grausamkeit, mit der sie Andere in ihr Leid verwickeln, mit der sie auf
Fremde den eigenen Jammer häufen, diese in den Strudel ihres eige¬
nen drängenden, athemlosen Lebens hineinziehen. Wie viel anders und
edler tritt uns das Weib entgegen! Es trägt für sich, duldet, und


vertraute; — und er vergaß es, und redete zu einem Mädchen, das
er für berufen hielt, ihn mit weichem und doch mit so unwiderstehlich
starkem Arm zu umklammern, um mit ihm einen Bund zu schließen,
welcher den Kämpfen seiner Seele und den tief verwundenden Waffen
des lauernden Egoismus trotzen sollte. Der Himmel umdüsterte sich
dunkler und drohender; — Richard entwarf eine verständliche Schil¬
derung von dem heitern Glücke der Familien in G. und Reichenau,
das nicht zur Welt gehörte, und eben deswegen ein Sonntagskind der
Schöpfung sei. Marie, in deren Herzen so manche ungekannte Ge¬
fühle, so manche bisher nicht geahnte Neigungen unklar aufdämmerten
und mit der Oede des Alltagslebens, der instinctmäßigcn Gewohnheit
einen zweifelhaften Kampf um ihre Existenz kämpften, — Marie glaubte,
es wäre nun endlich einmal an der Zeit, ein Wort für sich einzulegen,
eine bestimmte Entscheidung herbeizuführen. Schüchtern machte sie da¬
her den Versuch, etwas zu sagen und konnte immer den rechten Aus¬
druck nicht finden; sie wurde verlegen, gerieth in Verwirrung, verwik-
kelte sich in unverständliche Perioden, bis endlich klar und deutlich die
Frage hervorsprang: Wie lange denn wohl der Herr Doctor noch zu
warten habe, bis er im Stande sei, eine selbstständige Familie zu
gründen? —

Der Zeitpunkt war sehr unglücklich gewählt, die Gewitterwolken
durchzuckte eben der erste Blitz und hallte in dumpfem Donner nach.
Auch in Richard's Jnnern blitzte es ans, die Illusion war vorüber,
hell lag die Wirklichkeit vor ihm, auf seinem Munde zuckte Schmerz
und Spott, mitleidslos, zerstörend für ihn selbst und für das unglück¬
liche Opfer seiner Laune und absichtlichen Selbsttäuschung. Er wurde
sogar für sie verständlich, als er ihr zum Schluß sagte, wie das noch
lange anstehen müsse, wie er aber überzeugt sei, sie werde sich so gut
conserviren, daß ein jahrelanger Aufschub ihrer Heirathsfähigkeit keinen
Eintrag thun könne, zumal wenn sie die nöthige Diät beobachte und
fortfahre, ihrer kräftigen Konstitution jeden Abend die gesunde Motion
von G. nach Reichenau zu machen. Dieses waren seine letzten Worte;
der Regen floß in Strömen, Richard nahm mit einer stummen Ver-
neigung Abschied, in Mariens Auge zitterte eine Thräne. — Es liegt
in dem Charakter der Männer eine rücksichtslose Härte, eine raffinirte
Grausamkeit, mit der sie Andere in ihr Leid verwickeln, mit der sie auf
Fremde den eigenen Jammer häufen, diese in den Strudel ihres eige¬
nen drängenden, athemlosen Lebens hineinziehen. Wie viel anders und
edler tritt uns das Weib entgegen! Es trägt für sich, duldet, und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/314>, abgerufen am 24.11.2024.