Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.Lebhaftigkeit verlor, obgleich fie fast ausschließlich auf ihm ruhte. Als Du willst sie sich selbstständig entfalten lassen, -- dachte er, als "Ach ja! es ist schrecklich. Denken Sie, der junge Mann ist 38-i-
Lebhaftigkeit verlor, obgleich fie fast ausschließlich auf ihm ruhte. Als Du willst sie sich selbstständig entfalten lassen, — dachte er, als „Ach ja! es ist schrecklich. Denken Sie, der junge Mann ist 38-i-
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0307" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182730"/> <p xml:id="ID_851" prev="#ID_850"> Lebhaftigkeit verlor, obgleich fie fast ausschließlich auf ihm ruhte. Als<lb/> geschickter Feldherr recognoscirte er nach allen Seiten hin das Terrain,<lb/> um die passendste Stelle für seine Angrifföpläne zu finden. Aber nach¬<lb/> dem er bereits Mariechens Herzensfestung von der sentimentalen, idylli¬<lb/> schen, heroischen, romantischen, religiösen, häuslichen Seite bestürmt,<lb/> und noch immer die universelle Alltagsmiene vor sich sah, trotz der ver¬<lb/> schiedenartigsten Operationen nicht eine einzige Neigung, eine einzige<lb/> Schwäche, eine einzige Tugend zu Tage fördern konnte, — versiegten<lb/> Kräfte und Geduld. Vollständig außer Fassung blickte er auf seine<lb/> Manschetten und Blaßgelben — alles in bester Ordnung; und dasteht<lb/> Mariechen, die achtzehnjährige Tochter einer redlichen Pfarrersfamilie,<lb/> und blickt so apathisch drein, als gäbe es in ver ganzen Welt weder<lb/> Manschetten noch Blaßgelbe, weder Liebe noch Poesie.</p><lb/> <p xml:id="ID_852"> Du willst sie sich selbstständig entfalten lassen, — dachte er, als<lb/> er mit ihr in den hinter dem Hause gelegenen Garten trat, um hier<lb/> die Heimkehr des Herrn Pfarrers zu erwarten. Marie, der es nun<lb/> oblag, eine handelnde Rolle zu spielen, wenn sie nicht die ganze Un¬<lb/> terhaltung in allgemeines Stillschweigen aufgelöst sehen wollte, ent¬<lb/> wickelte auch bald eine große Redseligkeit, mit der sie jedoch ihren Gast<lb/> nur noch mehr verwirrte und außer Fassung brachte. Denn wenn sie<lb/> eben mit einem ganz artigen Entzückungöausrufe ein hervorbrechendes<lb/> RosenknöSpchen bewunderte, und erdachte: Halt! nun wird's kommen;<lb/> — so sprang sie wieder in demselben Augenblicke mit so prosaischer<lb/> Geläufigkeit auf ein gleichgültiges Stadtgeträlsch über, daß es wirklich<lb/> zum Verzweifeln war. Ein solcher Seelenzustand spiegelte sich auch<lb/> auf Richard's Antlitz in regengrauen, trostlosen Farben ab, doch plötz¬<lb/> lich leuchtete ein Gedanke in seinen Zügen: „Ich hab's!" rief er sich<lb/> selbst vergessend so laut, daß ihn seine schöne Gesellschafterin verwun¬<lb/> dert ansah, „ich hab's — die Poesie der alltäglichsten Alltäglichkeit!<lb/> — O! kommen Sie, meine theure Fräulein Marie —" es muß bemerkt<lb/> werden, daß er sie in der Ueberschwänglichkeit seiner freudigen Aufre¬<lb/> gung in den Arm gefaßt, ohne auf besondere Hindernisse zu stoßen —<lb/> „kommen Sie, lassen Sie uns in dieser Laube Platz nehmen, ich habe<lb/> Ihnen so viel zu erzählen; und Sie werden das Proch'sche Schweizer¬<lb/> heimweh singen. Werden Sie nicht? Doch was sagten Sie vorhin<lb/> von einem gewissen Dr. Richard, der in G. wohnt?"</p><lb/> <p xml:id="ID_853" next="#ID_854"> „Ach ja! es ist schrecklich. Denken Sie, der junge Mann ist<lb/> plötzlich verrückt geworden; man sah ihm wohl schon lange an, daß<lb/> es nicht recht richtig mit ihm war; — aber mit einem Male so voll-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 38-i-</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0307]
Lebhaftigkeit verlor, obgleich fie fast ausschließlich auf ihm ruhte. Als
geschickter Feldherr recognoscirte er nach allen Seiten hin das Terrain,
um die passendste Stelle für seine Angrifföpläne zu finden. Aber nach¬
dem er bereits Mariechens Herzensfestung von der sentimentalen, idylli¬
schen, heroischen, romantischen, religiösen, häuslichen Seite bestürmt,
und noch immer die universelle Alltagsmiene vor sich sah, trotz der ver¬
schiedenartigsten Operationen nicht eine einzige Neigung, eine einzige
Schwäche, eine einzige Tugend zu Tage fördern konnte, — versiegten
Kräfte und Geduld. Vollständig außer Fassung blickte er auf seine
Manschetten und Blaßgelben — alles in bester Ordnung; und dasteht
Mariechen, die achtzehnjährige Tochter einer redlichen Pfarrersfamilie,
und blickt so apathisch drein, als gäbe es in ver ganzen Welt weder
Manschetten noch Blaßgelbe, weder Liebe noch Poesie.
Du willst sie sich selbstständig entfalten lassen, — dachte er, als
er mit ihr in den hinter dem Hause gelegenen Garten trat, um hier
die Heimkehr des Herrn Pfarrers zu erwarten. Marie, der es nun
oblag, eine handelnde Rolle zu spielen, wenn sie nicht die ganze Un¬
terhaltung in allgemeines Stillschweigen aufgelöst sehen wollte, ent¬
wickelte auch bald eine große Redseligkeit, mit der sie jedoch ihren Gast
nur noch mehr verwirrte und außer Fassung brachte. Denn wenn sie
eben mit einem ganz artigen Entzückungöausrufe ein hervorbrechendes
RosenknöSpchen bewunderte, und erdachte: Halt! nun wird's kommen;
— so sprang sie wieder in demselben Augenblicke mit so prosaischer
Geläufigkeit auf ein gleichgültiges Stadtgeträlsch über, daß es wirklich
zum Verzweifeln war. Ein solcher Seelenzustand spiegelte sich auch
auf Richard's Antlitz in regengrauen, trostlosen Farben ab, doch plötz¬
lich leuchtete ein Gedanke in seinen Zügen: „Ich hab's!" rief er sich
selbst vergessend so laut, daß ihn seine schöne Gesellschafterin verwun¬
dert ansah, „ich hab's — die Poesie der alltäglichsten Alltäglichkeit!
— O! kommen Sie, meine theure Fräulein Marie —" es muß bemerkt
werden, daß er sie in der Ueberschwänglichkeit seiner freudigen Aufre¬
gung in den Arm gefaßt, ohne auf besondere Hindernisse zu stoßen —
„kommen Sie, lassen Sie uns in dieser Laube Platz nehmen, ich habe
Ihnen so viel zu erzählen; und Sie werden das Proch'sche Schweizer¬
heimweh singen. Werden Sie nicht? Doch was sagten Sie vorhin
von einem gewissen Dr. Richard, der in G. wohnt?"
„Ach ja! es ist schrecklich. Denken Sie, der junge Mann ist
plötzlich verrückt geworden; man sah ihm wohl schon lange an, daß
es nicht recht richtig mit ihm war; — aber mit einem Male so voll-
38-i-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |