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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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würde, keine Erfahrung verschaffen. Wenn eS nun mit den vorgeb¬
lich "vernünftigen Principien" bei deren wirklicher Anwendung grade
wieder so erginge, wie es schon mit so vielen andern, die man ihrer
Zeit auch für vernünftig oder wenigstens für beglückend hielt, erging?
Freiheit! was ist denn diese Freiheit? Vernunft! was ist denn diese
Vernunft? Ich muß wiederholen: wenn man das nur erführe! "Frei¬
heit," sagt Rüge, "ist die Kraft des Geistes und des sich selbst klaren
Willens, der edle Charakter und die siegreiche Vernunft, die Existenz
des wahren Menschen." Vortrefflich! Freiheit ist Vernunft, Vernunft
ist Freiheit, den edeln Charakter haben wir obenein, was für ein Ding
aber ein "sich selbst klarer Wille" ist und was für eine Nase der
"wahre Mensch" haben muß, erfahren wir noch immer nicht. Still,
unser Freund nimmt einen neuen Anlauf. "Freiheit," sagt er, ist "die
Wahl der vernünftigen Intelligenz oder die vernünftige Selbstbestim¬
mung." Sind wir nun klüger? Aber wenigstens tyrannisch genug
ist diese vernünftige Freiheit und freie Vernunft: sie ist "Wahl der
vernünftigen Selbstbestimmung, also "hat Der Unrecht, welcher sagt,
wenn die luzerner Bauern die Jesuiten wollen, muß ihnen das frei
stehen und der Staat, der sie daran hindert, ist eine Tyrannei, und
Der hat Recht, welcher entgegnet, der Wille der luzerner Bauern sei
der Wille der Unfreiheit, man dürfe diesem Willen nichts opfern, man
dürfe nicht seine Wissenschaft und Cultur aufgeben, weil die luzerner
Bauern oder die Jesuiten es für gut finden." Diese Entgegnung legt
Rüge Victor Schölcher in den Mund. Und er selber setzt hinzu:
"Die Freiheit ist die vernünftige Welt und der vernünftige Mensch....
Jesuiten und Bauern haben kein Recht, sich gegen die Wis¬
senschaft und Bildung unserer Zeit aufzulehnen. Ein Gesetz, welches
diese Bildung von allen Bürgern forderte, wäre nichts als der Aus¬
druck der Freiheit... Wo die Welt vernünftig organisirt ist, da darf
Niemand sein Kind weder zur Rohheit, noch zur Opposition gegen die
Aufklärung erziehen lassen. Eben daß die Einzelnen dies nicht dürfen,
beweist, daß die Freiheit eine Realität ist." Schölcher: "Die Freiheit
ist ein logischer Zwang, den man darum nicht als Zwang empfindet,
weil er die Befriedigung unserer vernünftigen Natur und die Genug¬
thuung ihrer (geschichtlichen) Entwicklung ist." Rüge: "Die Gewalt
ist nicht roh, welche die Rohheit aufhebt." Wir lernen also hier, daß
Freiheit mit Zwang, ebenso vernünftige Selbstbestimmung mit einer
geforderte "Bildung gleichbedeutend sind. Wodurch unterscheidet sich
denn nun die neue Welt von der alten, das Reich der Zukunft von


würde, keine Erfahrung verschaffen. Wenn eS nun mit den vorgeb¬
lich „vernünftigen Principien" bei deren wirklicher Anwendung grade
wieder so erginge, wie es schon mit so vielen andern, die man ihrer
Zeit auch für vernünftig oder wenigstens für beglückend hielt, erging?
Freiheit! was ist denn diese Freiheit? Vernunft! was ist denn diese
Vernunft? Ich muß wiederholen: wenn man das nur erführe! „Frei¬
heit," sagt Rüge, „ist die Kraft des Geistes und des sich selbst klaren
Willens, der edle Charakter und die siegreiche Vernunft, die Existenz
des wahren Menschen." Vortrefflich! Freiheit ist Vernunft, Vernunft
ist Freiheit, den edeln Charakter haben wir obenein, was für ein Ding
aber ein „sich selbst klarer Wille" ist und was für eine Nase der
„wahre Mensch" haben muß, erfahren wir noch immer nicht. Still,
unser Freund nimmt einen neuen Anlauf. „Freiheit," sagt er, ist „die
Wahl der vernünftigen Intelligenz oder die vernünftige Selbstbestim¬
mung." Sind wir nun klüger? Aber wenigstens tyrannisch genug
ist diese vernünftige Freiheit und freie Vernunft: sie ist „Wahl der
vernünftigen Selbstbestimmung, also „hat Der Unrecht, welcher sagt,
wenn die luzerner Bauern die Jesuiten wollen, muß ihnen das frei
stehen und der Staat, der sie daran hindert, ist eine Tyrannei, und
Der hat Recht, welcher entgegnet, der Wille der luzerner Bauern sei
der Wille der Unfreiheit, man dürfe diesem Willen nichts opfern, man
dürfe nicht seine Wissenschaft und Cultur aufgeben, weil die luzerner
Bauern oder die Jesuiten es für gut finden." Diese Entgegnung legt
Rüge Victor Schölcher in den Mund. Und er selber setzt hinzu:
„Die Freiheit ist die vernünftige Welt und der vernünftige Mensch....
Jesuiten und Bauern haben kein Recht, sich gegen die Wis¬
senschaft und Bildung unserer Zeit aufzulehnen. Ein Gesetz, welches
diese Bildung von allen Bürgern forderte, wäre nichts als der Aus¬
druck der Freiheit... Wo die Welt vernünftig organisirt ist, da darf
Niemand sein Kind weder zur Rohheit, noch zur Opposition gegen die
Aufklärung erziehen lassen. Eben daß die Einzelnen dies nicht dürfen,
beweist, daß die Freiheit eine Realität ist." Schölcher: „Die Freiheit
ist ein logischer Zwang, den man darum nicht als Zwang empfindet,
weil er die Befriedigung unserer vernünftigen Natur und die Genug¬
thuung ihrer (geschichtlichen) Entwicklung ist." Rüge: „Die Gewalt
ist nicht roh, welche die Rohheit aufhebt." Wir lernen also hier, daß
Freiheit mit Zwang, ebenso vernünftige Selbstbestimmung mit einer
geforderte «Bildung gleichbedeutend sind. Wodurch unterscheidet sich
denn nun die neue Welt von der alten, das Reich der Zukunft von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/288>, abgerufen am 27.11.2024.