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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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Tendenz manövrirt und die sich meistens alle geradezu unfähig zeigen,
die nackte Wirklichkeit unseres Lebens mit der Wahrheit der Poesie in
großer, kühner Auffassung zu verbinden. Starklof will in. feinem
"Armin Galoor" weder ein socialistisches, noch ein commnnistischeS
System proclamiren und uns eine Svstemweisheit weder in spaßhaf¬
ten, noch in gräßlichen Bildern veranschaulichen; sür ihn ist die Poesie
nicht mehr die Dienerin irgend eines außer ihr liegenden Interesses,
er erhebt sie wieder zu sich selber, zu ihrem selbsteigenen Wesen. Sie
überragt die vereinzelten Bewegungen, Kämpfe und Zuckungen unserer
Zeit, aber sie verleugnet diese Zeit und ihren Boden nicht, sondern
sucht vielmehr dieselbe in der Fülle ihrer ganzen Kraft und ihrer objec¬
tiven Ruhe zu charakterisiren und in einer großartigen Fassung wieder-
zngebären. So ist "Armin Galoor" kein Tendenzroman, aber ein Zeit¬
roman, wie wir augenblicklich keinen zweiten besitzen und der Verfasser
weiß in demselben ein Bild unseres deutschen Lebens nach allen Seiten
hin mit einer solchen Kenntniß und Kühnheit zu entwerfen, daß wir
wahrhaft verwundert sind durch das Resultat, welches wir durch ihn
erhalten.

Denn dieses Resultat, ihr deutschen Romanschreiber, ist kein ande¬
res, als folgendes: Ihr belügt euch und das Publikum selbst, wenn
ihr behauptet, daß es unmöglich sei, unsere Gegenwart, so unklar und
so, zerrissen, wie sie geworden, zum Gegenstande einer künstlerischen
Behandlung zu erheben. Starklof liefert uns den Beweis dieser Mög¬
lichkeit. Nicht an unserer Gegenwart liegt es, wenn ihr dieselbe in
euren Romanen entweder toll verzerrt und versratzt oder dieselbe gänz¬
lich ans dem Spiel zu lassen müssen glaubt. Ihr selbst tragt die
Schuld in eurer Lebensunfähigkeit. Ihr lebt nicht, ihr schreibt nur.
Ihr wollt die Gegenwart schildern und darstellen, ohne daß ihr sie
kennt. In euren Universttätscompendien, ans euren Bairischbierbänken,
in euren Buchläden und Lefeinstituton glaubt ihr alles erfahren zu
können, was ihr zu wissen braucht, und aus der Oede eurer indivi¬
duellen Existenz heraus glaubt ihr dann die Gegenwart darstellen zu
können, oder ihr behauptet, daß, was ihr nicht könnt, überhaupt un¬
möglich sei. Deshalb sind unsere deutschen Romane so lebensunfähig
und so unwahr der französischen und der englischen Romanliteratur
gegenüber. Dem deutschen Romanschreiber hat das Leben in der Re¬
gel wenig gegeben, er sitzt in engen Pferchen, ihn trägt keine kühne
Woge an fremde Gestade, hinein in einen großartigen Conflict des
Lebens und der Individualitäten, er weiß es zu einer anständigen,


Tendenz manövrirt und die sich meistens alle geradezu unfähig zeigen,
die nackte Wirklichkeit unseres Lebens mit der Wahrheit der Poesie in
großer, kühner Auffassung zu verbinden. Starklof will in. feinem
„Armin Galoor" weder ein socialistisches, noch ein commnnistischeS
System proclamiren und uns eine Svstemweisheit weder in spaßhaf¬
ten, noch in gräßlichen Bildern veranschaulichen; sür ihn ist die Poesie
nicht mehr die Dienerin irgend eines außer ihr liegenden Interesses,
er erhebt sie wieder zu sich selber, zu ihrem selbsteigenen Wesen. Sie
überragt die vereinzelten Bewegungen, Kämpfe und Zuckungen unserer
Zeit, aber sie verleugnet diese Zeit und ihren Boden nicht, sondern
sucht vielmehr dieselbe in der Fülle ihrer ganzen Kraft und ihrer objec¬
tiven Ruhe zu charakterisiren und in einer großartigen Fassung wieder-
zngebären. So ist „Armin Galoor" kein Tendenzroman, aber ein Zeit¬
roman, wie wir augenblicklich keinen zweiten besitzen und der Verfasser
weiß in demselben ein Bild unseres deutschen Lebens nach allen Seiten
hin mit einer solchen Kenntniß und Kühnheit zu entwerfen, daß wir
wahrhaft verwundert sind durch das Resultat, welches wir durch ihn
erhalten.

Denn dieses Resultat, ihr deutschen Romanschreiber, ist kein ande¬
res, als folgendes: Ihr belügt euch und das Publikum selbst, wenn
ihr behauptet, daß es unmöglich sei, unsere Gegenwart, so unklar und
so, zerrissen, wie sie geworden, zum Gegenstande einer künstlerischen
Behandlung zu erheben. Starklof liefert uns den Beweis dieser Mög¬
lichkeit. Nicht an unserer Gegenwart liegt es, wenn ihr dieselbe in
euren Romanen entweder toll verzerrt und versratzt oder dieselbe gänz¬
lich ans dem Spiel zu lassen müssen glaubt. Ihr selbst tragt die
Schuld in eurer Lebensunfähigkeit. Ihr lebt nicht, ihr schreibt nur.
Ihr wollt die Gegenwart schildern und darstellen, ohne daß ihr sie
kennt. In euren Universttätscompendien, ans euren Bairischbierbänken,
in euren Buchläden und Lefeinstituton glaubt ihr alles erfahren zu
können, was ihr zu wissen braucht, und aus der Oede eurer indivi¬
duellen Existenz heraus glaubt ihr dann die Gegenwart darstellen zu
können, oder ihr behauptet, daß, was ihr nicht könnt, überhaupt un¬
möglich sei. Deshalb sind unsere deutschen Romane so lebensunfähig
und so unwahr der französischen und der englischen Romanliteratur
gegenüber. Dem deutschen Romanschreiber hat das Leben in der Re¬
gel wenig gegeben, er sitzt in engen Pferchen, ihn trägt keine kühne
Woge an fremde Gestade, hinein in einen großartigen Conflict des
Lebens und der Individualitäten, er weiß es zu einer anständigen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/263>, abgerufen am 23.07.2024.