Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.Punkte, von welchen aus sie sich am schönsten und stattlichsten aus¬
Eben so schnell wie sie uns erschienen war, eben so schnell war sie Punkte, von welchen aus sie sich am schönsten und stattlichsten aus¬
Eben so schnell wie sie uns erschienen war, eben so schnell war sie <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0194" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182617"/> <p xml:id="ID_520" prev="#ID_519"> Punkte, von welchen aus sie sich am schönsten und stattlichsten aus¬<lb/> nimmt; wirklich hat sie von jeder Seite einen andern Reiz. Bald<lb/> blickt sie stolz majestätisch, bald düster ernst, bald idyllisch freundlich.<lb/> Jeden Augenblick verschwindet sie hinter dem dichten Walde, aber eben<lb/> so plötzlich steht sie wieder vor Dir, und immer glaubst Du ein neues<lb/> Mährchen ans grauen Zeiten zu erleben. Eben so schön sind die Jrr-<lb/> gewinde und Waldwege, die sie ringsum umschlängeln. Bald geht<lb/> es einen steilen felsigen Abhang hinab, bald führt Dich Dein Weg<lb/> einen ebenen schattigen Gang, dann stehst Du wieder auf der<lb/> Spitze einer Felsenzacke, oder findest Dich auf einem stillen Plätzchen,<lb/> ganz wie gemacht zum Versemachen oder zum Lieben. Wie wir so<lb/> beide in etwas phantastischen Aufzügen neben einander herritten, kam<lb/> es mir vor, als wären wir zwei selbst die Gestalten, die aus irgend<lb/> einem mittelalterlichen Volksbuche entsprungen, hier um die Wartburg,<lb/> ihrer ehemaligen Heimath, umherirrten. Nur einmal störte mich mein<lb/> Esel etwas prosaisch ans meinen Träumen. Ich wollte ihn mit Ge¬<lb/> walt auf eine Felsenkante nachziehen, von wo aus mau ein schönes<lb/> Thal und das Hospital der heiligen Elisabeth überschauen kann —<lb/> aber da begann er so jämmerlich und unharmonisch zu schreien, daß<lb/> ich alle Mühe hatte und alle Zärtlichkeit anwenden mußte, ihn wie¬<lb/> der zu besänftigen. Aber die Poesie kehrte bald wieder. Denn wäh¬<lb/> rend wir dahin ritten und mir mein liebenswürdiger Führer all die<lb/> hundert Sagen erzählte, die hier jede Schlucht, jeden Fels, jeden Baum<lb/> beseelen, und während wir um eine Waldecke bogen, stand plötzlich<lb/> mitten im Blättergrün eine wunderbare schöne Frau im blauen Kleide,<lb/> mit dunkelblauen Augen und dunkelblauen Haaren vor uns. Unwill¬<lb/> kürlich zogen wir unsere breiten Hüte und neigten uns tief vor der<lb/> über den sonderbaren Aufzugstill lächelnden Frau. Ich sah den Haupt¬<lb/> mann fragend an ; er kannte sie nicht. War es aus dem Zauber¬<lb/> berge dort die Frau Venus, die schöne Teufelin, die ihren schmachten¬<lb/> den Tannhäuser auf kurze Zeit verlassen, um uns mit Einem Blicke<lb/> zu verzaubern? war es die im dunklen Walde hausende deutsche Poesie:</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_13" type="poem"> <l> „Das wunderbare Weib,<lb/> Das hoch auf stolzem Roß, zu seltenem Zeitvertreib<lb/> Das Silberhorn zur Hand, den Falken auf die Faust<lb/> Tagtäglich durch den Forst im tollen Ritte braust?"</l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_521" next="#ID_522"> Eben so schnell wie sie uns erschienen war, eben so schnell war sie<lb/> verschwunden, und ich lasse mir den schönen Wahn nicht nehmen, daß</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0194]
Punkte, von welchen aus sie sich am schönsten und stattlichsten aus¬
nimmt; wirklich hat sie von jeder Seite einen andern Reiz. Bald
blickt sie stolz majestätisch, bald düster ernst, bald idyllisch freundlich.
Jeden Augenblick verschwindet sie hinter dem dichten Walde, aber eben
so plötzlich steht sie wieder vor Dir, und immer glaubst Du ein neues
Mährchen ans grauen Zeiten zu erleben. Eben so schön sind die Jrr-
gewinde und Waldwege, die sie ringsum umschlängeln. Bald geht
es einen steilen felsigen Abhang hinab, bald führt Dich Dein Weg
einen ebenen schattigen Gang, dann stehst Du wieder auf der
Spitze einer Felsenzacke, oder findest Dich auf einem stillen Plätzchen,
ganz wie gemacht zum Versemachen oder zum Lieben. Wie wir so
beide in etwas phantastischen Aufzügen neben einander herritten, kam
es mir vor, als wären wir zwei selbst die Gestalten, die aus irgend
einem mittelalterlichen Volksbuche entsprungen, hier um die Wartburg,
ihrer ehemaligen Heimath, umherirrten. Nur einmal störte mich mein
Esel etwas prosaisch ans meinen Träumen. Ich wollte ihn mit Ge¬
walt auf eine Felsenkante nachziehen, von wo aus mau ein schönes
Thal und das Hospital der heiligen Elisabeth überschauen kann —
aber da begann er so jämmerlich und unharmonisch zu schreien, daß
ich alle Mühe hatte und alle Zärtlichkeit anwenden mußte, ihn wie¬
der zu besänftigen. Aber die Poesie kehrte bald wieder. Denn wäh¬
rend wir dahin ritten und mir mein liebenswürdiger Führer all die
hundert Sagen erzählte, die hier jede Schlucht, jeden Fels, jeden Baum
beseelen, und während wir um eine Waldecke bogen, stand plötzlich
mitten im Blättergrün eine wunderbare schöne Frau im blauen Kleide,
mit dunkelblauen Augen und dunkelblauen Haaren vor uns. Unwill¬
kürlich zogen wir unsere breiten Hüte und neigten uns tief vor der
über den sonderbaren Aufzugstill lächelnden Frau. Ich sah den Haupt¬
mann fragend an ; er kannte sie nicht. War es aus dem Zauber¬
berge dort die Frau Venus, die schöne Teufelin, die ihren schmachten¬
den Tannhäuser auf kurze Zeit verlassen, um uns mit Einem Blicke
zu verzaubern? war es die im dunklen Walde hausende deutsche Poesie:
„Das wunderbare Weib,
Das hoch auf stolzem Roß, zu seltenem Zeitvertreib
Das Silberhorn zur Hand, den Falken auf die Faust
Tagtäglich durch den Forst im tollen Ritte braust?"
Eben so schnell wie sie uns erschienen war, eben so schnell war sie
verschwunden, und ich lasse mir den schönen Wahn nicht nehmen, daß
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