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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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dermützchen, um welche es sich handelte, vor die Füße. "Ich habe sie
ehrlich gefunden und wer mir was anders nachsagt--" -- "Ja, ge¬
sunden, ich habe sie mit gefunden," sagte der Friedensstifter. "Wir
dachten, Masser hätte sie verloren, und wenn der Kindermützen braucht,
kann er sich schon andere kaufen." - "Masser?" rief die Wittwe mit
funkelnden Augen.

Die Beiden erzählten, daß sie die Häubchen gefunden, wo Herr
Masser nur eben vorbei gegangen sei.

"Ja, ja, das hat seine Richtigkeit!" murmelte die Greschel. "Ich
weiß es nun schon, die Mützen sind mein, ich kann sie Euch nicht
lassen, denn was soll ich sonst der armen Liese mitbringen? Nichts
für ungut!" -- "Nun, geh' Sie doch nicht so stolz vorbei," sagte der
Mann. "Will Sie nicht einmal sehen, was Ihre Pathe macht? Es
ist schon spät -- hat Sie Freundschaft hier? Oder bleibe Sie doch
die Nacht bei uns." -- "Ich will Eure Grete einmal sehen, das Mä¬
del muß hübsch geworden sein," erwiederte die Wittwe und trat unter
das Dach der Armuth. Wollten wir eine Schilderung des Anblicks
versuchen, der sich hier bot (er war freilich der Wittwe nichts Neues),
so würden sich unsere Leser von dem abstoßenden Bilde wenden und
doch können wir versichern, daß selbst die ergreifendste Malerei dieser
Scenen oft genug gegen die lebendige Wirklichkeit matt erscheint. Sei
es denn der Phantasie überlassen, sich das Dasein -- denn Leben
kann man es nicht nennen: sie leben nicht, sie sind nur da ---
unserer verkümmertsten Volksklasse zu denken.

In dem Elende, das sie umgab, hatte sich wie durch ein Wun¬
der die Tochter des alten Menschen, welche die Wittwe hereingeführt,
frisch und gesund erhalten, sie kam ihrer alten Pathe freundlich ent¬
gegen und lud sie auch zum Uebernachten ein, was Frau Greschel an¬
nahm. Als sie nun auf der Bank saß und Gretchen ihr etwas
Schwarzbrod mit Leinöl vorsetzte, fing die alte Frau auf einmal an,
bitterlich zu- weinen.

"Weine Sie nicht!" sagte das Mädchen mitleidig, während ihr
Vater einen tiefen Schluck aus der Flasche that, um sich die Rührung
zu ersticken. "Nicht wahr, Sie weint um den Martin? Er sitzt wohl
lange?" -- "Nein, Grete, er sitzt gar nicht mehr, er ist los," sagte
die Greschel, aber sie weinte fort. -- "Er ist los? Ich dachte im¬
mer, es könnte doch wohl gewesen sein --" erwiederte das Mädchen.
- "Stille, stille! Davon red' ich nicht!" unterbrach sie die Wittwe.
"Er ist los, ich habe ihn erst heute gesehen. Ach Gott, er lies vor


dermützchen, um welche es sich handelte, vor die Füße. „Ich habe sie
ehrlich gefunden und wer mir was anders nachsagt—" — „Ja, ge¬
sunden, ich habe sie mit gefunden," sagte der Friedensstifter. „Wir
dachten, Masser hätte sie verloren, und wenn der Kindermützen braucht,
kann er sich schon andere kaufen." - „Masser?" rief die Wittwe mit
funkelnden Augen.

Die Beiden erzählten, daß sie die Häubchen gefunden, wo Herr
Masser nur eben vorbei gegangen sei.

„Ja, ja, das hat seine Richtigkeit!" murmelte die Greschel. „Ich
weiß es nun schon, die Mützen sind mein, ich kann sie Euch nicht
lassen, denn was soll ich sonst der armen Liese mitbringen? Nichts
für ungut!" — „Nun, geh' Sie doch nicht so stolz vorbei," sagte der
Mann. „Will Sie nicht einmal sehen, was Ihre Pathe macht? Es
ist schon spät — hat Sie Freundschaft hier? Oder bleibe Sie doch
die Nacht bei uns." — „Ich will Eure Grete einmal sehen, das Mä¬
del muß hübsch geworden sein," erwiederte die Wittwe und trat unter
das Dach der Armuth. Wollten wir eine Schilderung des Anblicks
versuchen, der sich hier bot (er war freilich der Wittwe nichts Neues),
so würden sich unsere Leser von dem abstoßenden Bilde wenden und
doch können wir versichern, daß selbst die ergreifendste Malerei dieser
Scenen oft genug gegen die lebendige Wirklichkeit matt erscheint. Sei
es denn der Phantasie überlassen, sich das Dasein — denn Leben
kann man es nicht nennen: sie leben nicht, sie sind nur da —-
unserer verkümmertsten Volksklasse zu denken.

In dem Elende, das sie umgab, hatte sich wie durch ein Wun¬
der die Tochter des alten Menschen, welche die Wittwe hereingeführt,
frisch und gesund erhalten, sie kam ihrer alten Pathe freundlich ent¬
gegen und lud sie auch zum Uebernachten ein, was Frau Greschel an¬
nahm. Als sie nun auf der Bank saß und Gretchen ihr etwas
Schwarzbrod mit Leinöl vorsetzte, fing die alte Frau auf einmal an,
bitterlich zu- weinen.

„Weine Sie nicht!" sagte das Mädchen mitleidig, während ihr
Vater einen tiefen Schluck aus der Flasche that, um sich die Rührung
zu ersticken. „Nicht wahr, Sie weint um den Martin? Er sitzt wohl
lange?" — „Nein, Grete, er sitzt gar nicht mehr, er ist los," sagte
die Greschel, aber sie weinte fort. — „Er ist los? Ich dachte im¬
mer, es könnte doch wohl gewesen sein —" erwiederte das Mädchen.
- „Stille, stille! Davon red' ich nicht!" unterbrach sie die Wittwe.
„Er ist los, ich habe ihn erst heute gesehen. Ach Gott, er lies vor


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[0155] dermützchen, um welche es sich handelte, vor die Füße. „Ich habe sie ehrlich gefunden und wer mir was anders nachsagt—" — „Ja, ge¬ sunden, ich habe sie mit gefunden," sagte der Friedensstifter. „Wir dachten, Masser hätte sie verloren, und wenn der Kindermützen braucht, kann er sich schon andere kaufen." - „Masser?" rief die Wittwe mit funkelnden Augen. Die Beiden erzählten, daß sie die Häubchen gefunden, wo Herr Masser nur eben vorbei gegangen sei. „Ja, ja, das hat seine Richtigkeit!" murmelte die Greschel. „Ich weiß es nun schon, die Mützen sind mein, ich kann sie Euch nicht lassen, denn was soll ich sonst der armen Liese mitbringen? Nichts für ungut!" — „Nun, geh' Sie doch nicht so stolz vorbei," sagte der Mann. „Will Sie nicht einmal sehen, was Ihre Pathe macht? Es ist schon spät — hat Sie Freundschaft hier? Oder bleibe Sie doch die Nacht bei uns." — „Ich will Eure Grete einmal sehen, das Mä¬ del muß hübsch geworden sein," erwiederte die Wittwe und trat unter das Dach der Armuth. Wollten wir eine Schilderung des Anblicks versuchen, der sich hier bot (er war freilich der Wittwe nichts Neues), so würden sich unsere Leser von dem abstoßenden Bilde wenden und doch können wir versichern, daß selbst die ergreifendste Malerei dieser Scenen oft genug gegen die lebendige Wirklichkeit matt erscheint. Sei es denn der Phantasie überlassen, sich das Dasein — denn Leben kann man es nicht nennen: sie leben nicht, sie sind nur da —- unserer verkümmertsten Volksklasse zu denken. In dem Elende, das sie umgab, hatte sich wie durch ein Wun¬ der die Tochter des alten Menschen, welche die Wittwe hereingeführt, frisch und gesund erhalten, sie kam ihrer alten Pathe freundlich ent¬ gegen und lud sie auch zum Uebernachten ein, was Frau Greschel an¬ nahm. Als sie nun auf der Bank saß und Gretchen ihr etwas Schwarzbrod mit Leinöl vorsetzte, fing die alte Frau auf einmal an, bitterlich zu- weinen. „Weine Sie nicht!" sagte das Mädchen mitleidig, während ihr Vater einen tiefen Schluck aus der Flasche that, um sich die Rührung zu ersticken. „Nicht wahr, Sie weint um den Martin? Er sitzt wohl lange?" — „Nein, Grete, er sitzt gar nicht mehr, er ist los," sagte die Greschel, aber sie weinte fort. — „Er ist los? Ich dachte im¬ mer, es könnte doch wohl gewesen sein —" erwiederte das Mädchen. - „Stille, stille! Davon red' ich nicht!" unterbrach sie die Wittwe. „Er ist los, ich habe ihn erst heute gesehen. Ach Gott, er lies vor

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/155>, abgerufen am 23.07.2024.