Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

der wird wohl ermessen, wie absurd eS ist, anzunehmen, daß eine so
allgemeine mächtige Bewegung, wie jene der Reaction des galizi-
schen Landvolkes gegen die Revolutionärs, durch einige Gulden
Prämie und das Machtgebot irgend eines Regierungsbeamten hätte
erzeugt werden können. Es wäre dies dasselbe, als wolle man be¬
haupten, die Worte Mirabeau's odcr Sieyvs' hätten allein die fran¬
zösische Revolution gemacht. Derlei Erscheinungen machen sich nicht!
sie hängen, wie die Schneelawine, schon seit Jahrhunderten an den
Granitfelsen und dann genügt ein Laut, ein Ruf, ein Schuß, die
Masse in Bewegung zu setzen. Seit einem Jahrhundert ist die Kluft
eröffnet, welche zwischen dem alten Polen und dem Bauernthum
sich eingedrängt hat, und der Pistolenschuß, welchen ein Jnsurgcn-
tcnhäuptling in Lissa-Gura ans die sich seinem Gebote widersetzen¬
den Bauern that, brachte die Lawine zum Sturze, welche don¬
nernd hinabrollte, und in Galizien die letzten Ueberreste des
Polenthums begrub. Denn, wohlgemerkt, ein Polenthum gab es
noch, ob zwar Polen schon lange gestorben und nicht durch
die Theilung getödtet, sondern schon früher an innerer Auflösung
verschieden war, -- ja es hat in dem Sinne, in welchem man
jetzt ein Volk, einen Staat versteht, -- nie gelebt. Es kann wohl
Niemandem einfallen, das große moralische Verbrechen der Theilung
Polens als ein "usf-rssinat politünio" zu läugnen, aber entschuldigen
läßt es sich durch das Arion, daß die Eristenz Polens in der dama¬
ligen Form durchaus eine Unmöglichkeit durch die eigene innere
Auflösung geworden war. Die polnische Nation, das heißt der
kriegerische ritterliche Adel, war mehr ein Institut des Mittelalters
als ein Staat im modernen Sinne; sie war eine der schönsten
poetischen Erscheinungen in der Geschichte, aber eben deswegen mit
der neu heraufsteigenden Zeit unvereinbar., Polen und Venedig,
Malta und Deutschritterthum gehören der Geschichte an, und sie
wieder lebendig machen, hieße Cadaver galvanisiren; mögen es auch
noch so herrliche Gestalten, Riesenleiber und Heldcnleichen sein, man
kann mit ernster Wehmuth an ihrem Sarge weilen und Blumen
auf ihr Grab streuen; aber es ist beinahe Frevel (!) sie wieder zum
Gehen, Stehen, Sprechen und Kämpfen bringen zu wollen.

Das Polenthum aber hatte Polen überlebt. Der Geist
wandelte noch auf der Erde umher, als schon das Leben aus dem


13-i-

der wird wohl ermessen, wie absurd eS ist, anzunehmen, daß eine so
allgemeine mächtige Bewegung, wie jene der Reaction des galizi-
schen Landvolkes gegen die Revolutionärs, durch einige Gulden
Prämie und das Machtgebot irgend eines Regierungsbeamten hätte
erzeugt werden können. Es wäre dies dasselbe, als wolle man be¬
haupten, die Worte Mirabeau's odcr Sieyvs' hätten allein die fran¬
zösische Revolution gemacht. Derlei Erscheinungen machen sich nicht!
sie hängen, wie die Schneelawine, schon seit Jahrhunderten an den
Granitfelsen und dann genügt ein Laut, ein Ruf, ein Schuß, die
Masse in Bewegung zu setzen. Seit einem Jahrhundert ist die Kluft
eröffnet, welche zwischen dem alten Polen und dem Bauernthum
sich eingedrängt hat, und der Pistolenschuß, welchen ein Jnsurgcn-
tcnhäuptling in Lissa-Gura ans die sich seinem Gebote widersetzen¬
den Bauern that, brachte die Lawine zum Sturze, welche don¬
nernd hinabrollte, und in Galizien die letzten Ueberreste des
Polenthums begrub. Denn, wohlgemerkt, ein Polenthum gab es
noch, ob zwar Polen schon lange gestorben und nicht durch
die Theilung getödtet, sondern schon früher an innerer Auflösung
verschieden war, — ja es hat in dem Sinne, in welchem man
jetzt ein Volk, einen Staat versteht, — nie gelebt. Es kann wohl
Niemandem einfallen, das große moralische Verbrechen der Theilung
Polens als ein „usf-rssinat politünio" zu läugnen, aber entschuldigen
läßt es sich durch das Arion, daß die Eristenz Polens in der dama¬
ligen Form durchaus eine Unmöglichkeit durch die eigene innere
Auflösung geworden war. Die polnische Nation, das heißt der
kriegerische ritterliche Adel, war mehr ein Institut des Mittelalters
als ein Staat im modernen Sinne; sie war eine der schönsten
poetischen Erscheinungen in der Geschichte, aber eben deswegen mit
der neu heraufsteigenden Zeit unvereinbar., Polen und Venedig,
Malta und Deutschritterthum gehören der Geschichte an, und sie
wieder lebendig machen, hieße Cadaver galvanisiren; mögen es auch
noch so herrliche Gestalten, Riesenleiber und Heldcnleichen sein, man
kann mit ernster Wehmuth an ihrem Sarge weilen und Blumen
auf ihr Grab streuen; aber es ist beinahe Frevel (!) sie wieder zum
Gehen, Stehen, Sprechen und Kämpfen bringen zu wollen.

Das Polenthum aber hatte Polen überlebt. Der Geist
wandelte noch auf der Erde umher, als schon das Leben aus dem


13-i-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0111" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182534"/>
          <p xml:id="ID_291" prev="#ID_290"> der wird wohl ermessen, wie absurd eS ist, anzunehmen, daß eine so<lb/>
allgemeine mächtige Bewegung, wie jene der Reaction des galizi-<lb/>
schen Landvolkes gegen die Revolutionärs, durch einige Gulden<lb/>
Prämie und das Machtgebot irgend eines Regierungsbeamten hätte<lb/>
erzeugt werden können. Es wäre dies dasselbe, als wolle man be¬<lb/>
haupten, die Worte Mirabeau's odcr Sieyvs' hätten allein die fran¬<lb/>
zösische Revolution gemacht. Derlei Erscheinungen machen sich nicht!<lb/>
sie hängen, wie die Schneelawine, schon seit Jahrhunderten an den<lb/>
Granitfelsen und dann genügt ein Laut, ein Ruf, ein Schuß, die<lb/>
Masse in Bewegung zu setzen. Seit einem Jahrhundert ist die Kluft<lb/>
eröffnet, welche zwischen dem alten Polen und dem Bauernthum<lb/>
sich eingedrängt hat, und der Pistolenschuß, welchen ein Jnsurgcn-<lb/>
tcnhäuptling in Lissa-Gura ans die sich seinem Gebote widersetzen¬<lb/>
den Bauern that, brachte die Lawine zum Sturze, welche don¬<lb/>
nernd hinabrollte, und in Galizien die letzten Ueberreste des<lb/>
Polenthums begrub. Denn, wohlgemerkt, ein Polenthum gab es<lb/>
noch, ob zwar Polen schon lange gestorben und nicht durch<lb/>
die Theilung getödtet, sondern schon früher an innerer Auflösung<lb/>
verschieden war, &#x2014; ja es hat in dem Sinne, in welchem man<lb/>
jetzt ein Volk, einen Staat versteht, &#x2014; nie gelebt. Es kann wohl<lb/>
Niemandem einfallen, das große moralische Verbrechen der Theilung<lb/>
Polens als ein &#x201E;usf-rssinat politünio" zu läugnen, aber entschuldigen<lb/>
läßt es sich durch das Arion, daß die Eristenz Polens in der dama¬<lb/>
ligen Form durchaus eine Unmöglichkeit durch die eigene innere<lb/>
Auflösung geworden war. Die polnische Nation, das heißt der<lb/>
kriegerische ritterliche Adel, war mehr ein Institut des Mittelalters<lb/>
als ein Staat im modernen Sinne; sie war eine der schönsten<lb/>
poetischen Erscheinungen in der Geschichte, aber eben deswegen mit<lb/>
der neu heraufsteigenden Zeit unvereinbar., Polen und Venedig,<lb/>
Malta und Deutschritterthum gehören der Geschichte an, und sie<lb/>
wieder lebendig machen, hieße Cadaver galvanisiren; mögen es auch<lb/>
noch so herrliche Gestalten, Riesenleiber und Heldcnleichen sein, man<lb/>
kann mit ernster Wehmuth an ihrem Sarge weilen und Blumen<lb/>
auf ihr Grab streuen; aber es ist beinahe Frevel (!) sie wieder zum<lb/>
Gehen, Stehen, Sprechen und Kämpfen bringen zu wollen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_292" next="#ID_293"> Das Polenthum aber hatte Polen überlebt. Der Geist<lb/>
wandelte noch auf der Erde umher, als schon das Leben aus dem</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 13-i-</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0111] der wird wohl ermessen, wie absurd eS ist, anzunehmen, daß eine so allgemeine mächtige Bewegung, wie jene der Reaction des galizi- schen Landvolkes gegen die Revolutionärs, durch einige Gulden Prämie und das Machtgebot irgend eines Regierungsbeamten hätte erzeugt werden können. Es wäre dies dasselbe, als wolle man be¬ haupten, die Worte Mirabeau's odcr Sieyvs' hätten allein die fran¬ zösische Revolution gemacht. Derlei Erscheinungen machen sich nicht! sie hängen, wie die Schneelawine, schon seit Jahrhunderten an den Granitfelsen und dann genügt ein Laut, ein Ruf, ein Schuß, die Masse in Bewegung zu setzen. Seit einem Jahrhundert ist die Kluft eröffnet, welche zwischen dem alten Polen und dem Bauernthum sich eingedrängt hat, und der Pistolenschuß, welchen ein Jnsurgcn- tcnhäuptling in Lissa-Gura ans die sich seinem Gebote widersetzen¬ den Bauern that, brachte die Lawine zum Sturze, welche don¬ nernd hinabrollte, und in Galizien die letzten Ueberreste des Polenthums begrub. Denn, wohlgemerkt, ein Polenthum gab es noch, ob zwar Polen schon lange gestorben und nicht durch die Theilung getödtet, sondern schon früher an innerer Auflösung verschieden war, — ja es hat in dem Sinne, in welchem man jetzt ein Volk, einen Staat versteht, — nie gelebt. Es kann wohl Niemandem einfallen, das große moralische Verbrechen der Theilung Polens als ein „usf-rssinat politünio" zu läugnen, aber entschuldigen läßt es sich durch das Arion, daß die Eristenz Polens in der dama¬ ligen Form durchaus eine Unmöglichkeit durch die eigene innere Auflösung geworden war. Die polnische Nation, das heißt der kriegerische ritterliche Adel, war mehr ein Institut des Mittelalters als ein Staat im modernen Sinne; sie war eine der schönsten poetischen Erscheinungen in der Geschichte, aber eben deswegen mit der neu heraufsteigenden Zeit unvereinbar., Polen und Venedig, Malta und Deutschritterthum gehören der Geschichte an, und sie wieder lebendig machen, hieße Cadaver galvanisiren; mögen es auch noch so herrliche Gestalten, Riesenleiber und Heldcnleichen sein, man kann mit ernster Wehmuth an ihrem Sarge weilen und Blumen auf ihr Grab streuen; aber es ist beinahe Frevel (!) sie wieder zum Gehen, Stehen, Sprechen und Kämpfen bringen zu wollen. Das Polenthum aber hatte Polen überlebt. Der Geist wandelte noch auf der Erde umher, als schon das Leben aus dem 13-i-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/111
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/111>, abgerufen am 23.07.2024.