Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.So nahe übrigens der Wiener Indifferentismus liegt, so wenig Man hat die daraus entspringenden Stimmungen und Zustände So nahe übrigens der Wiener Indifferentismus liegt, so wenig Man hat die daraus entspringenden Stimmungen und Zustände <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0547" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/183568"/> <p xml:id="ID_1626"> So nahe übrigens der Wiener Indifferentismus liegt, so wenig<lb/> scheint man sich die Gründe desselben klar gemacht zu haben. Wien<lb/> hat ein Bedürfniß, conservativ und stationär zu sein und zu bleiben.<lb/> In seinem Schooße nistet jene überreiche Aristokratie; in die Taschen<lb/> seiner Speculanten fließt der größte Theil ihrer Revenüen. Alle Pro¬<lb/> vinzen der Monarchie müssen dazu verhältnißmäßig contribuiren. An<lb/> der Ferse eines einzigen Aristokraten hängt allemal ein Schwall an¬<lb/> derer Consumenten, und es entsteht nunmehr die Frage, wie denn<lb/> Wien eigentlich aussehen würde, wenn die Monarchie einen mehr<lb/> föderativem Typus annehmen würde, wie sie wohl von Gottes und<lb/> Rechtswegen bestimmt scheint? Doch auch von der Bureaukratie wer¬<lb/> den hier gewaltige Summen in Umlauf gesetzt; welcher Schlag für<lb/> Wien, wenn die bürokratische Organisation der Monarchie jemals<lb/> einer Reform unterzogen und der Irrgarten des öffentlichen Geschäfts¬<lb/> ganges gelichtet, regelmäßig und einfach abgetheilt, den Provinzen<lb/> hingegen das Recht eingeräumt würde, ihre besonderen Angelegenheiten<lb/> so viel als möglich selbst auszutragen. Das Beste zum Flore Wiens<lb/> wird durch die Anwesenheit des Hofes hinzugethan. Welch unberechen¬<lb/> barer Schade für Wien, wenn die Residenz abwechselnd anderswohin,<lb/> z. B. nach Prag oder Pesth verlegt werden müßte! Daß durch all'das<lb/> Erwähnte eine zahlreiche Garnison zu einem nothwendigen Zubehör<lb/> gemacht wird, braucht wohl kaum erwiesen zu werden und so weit<lb/> liegt es klar am Tage, daß Wien in materieller Hinsicht dahinsiechen<lb/> müßte, wenn je die herrschenden, absolutistisch-centralen Grundsätze<lb/> den provinzialen, föderativem Platz machen sollten. Auch rekrutirt sich<lb/> Wien aus einem Zusammenflusse der verschiedenartigsten Nationali¬<lb/> täten, und die Folge davon ist, daß keine zur rechten Entwickelung<lb/> gelangt. Das Blut der Wiener ist eine sonderbare Mischung, worin<lb/> alle erdenklichen Leidenschaften und Eigenthümlichkeiten sich derartig<lb/> durchdringen und binden, daß nichts übrig bleibt, als der completeste<lb/> Indifferentismus.</p><lb/> <p xml:id="ID_1627" next="#ID_1628"> Man hat die daraus entspringenden Stimmungen und Zustände<lb/> oft einer ungemessenen Polizeifurcht zugeschrieben. Allerdings mag<lb/> auch diese im Spiele gewesen sein, als der Wiener Charakter sich so,<lb/> wie er sich jetzt zeigt, auszubilden anfing. Die Stärke der Compres-<lb/> sion hängt in jedem Falle von der Compressibilität eines Elements<lb/> ab. Der Wiener war nun einmal für dieses Schreck- und Gespen«<lb/> sterbild empfänglicher, als irgend ein anderes Menschenkind, und diese<lb/> Furcht ist seit jeher ein stehendes Uebel bei den Großvätern, wie</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0547]
So nahe übrigens der Wiener Indifferentismus liegt, so wenig
scheint man sich die Gründe desselben klar gemacht zu haben. Wien
hat ein Bedürfniß, conservativ und stationär zu sein und zu bleiben.
In seinem Schooße nistet jene überreiche Aristokratie; in die Taschen
seiner Speculanten fließt der größte Theil ihrer Revenüen. Alle Pro¬
vinzen der Monarchie müssen dazu verhältnißmäßig contribuiren. An
der Ferse eines einzigen Aristokraten hängt allemal ein Schwall an¬
derer Consumenten, und es entsteht nunmehr die Frage, wie denn
Wien eigentlich aussehen würde, wenn die Monarchie einen mehr
föderativem Typus annehmen würde, wie sie wohl von Gottes und
Rechtswegen bestimmt scheint? Doch auch von der Bureaukratie wer¬
den hier gewaltige Summen in Umlauf gesetzt; welcher Schlag für
Wien, wenn die bürokratische Organisation der Monarchie jemals
einer Reform unterzogen und der Irrgarten des öffentlichen Geschäfts¬
ganges gelichtet, regelmäßig und einfach abgetheilt, den Provinzen
hingegen das Recht eingeräumt würde, ihre besonderen Angelegenheiten
so viel als möglich selbst auszutragen. Das Beste zum Flore Wiens
wird durch die Anwesenheit des Hofes hinzugethan. Welch unberechen¬
barer Schade für Wien, wenn die Residenz abwechselnd anderswohin,
z. B. nach Prag oder Pesth verlegt werden müßte! Daß durch all'das
Erwähnte eine zahlreiche Garnison zu einem nothwendigen Zubehör
gemacht wird, braucht wohl kaum erwiesen zu werden und so weit
liegt es klar am Tage, daß Wien in materieller Hinsicht dahinsiechen
müßte, wenn je die herrschenden, absolutistisch-centralen Grundsätze
den provinzialen, föderativem Platz machen sollten. Auch rekrutirt sich
Wien aus einem Zusammenflusse der verschiedenartigsten Nationali¬
täten, und die Folge davon ist, daß keine zur rechten Entwickelung
gelangt. Das Blut der Wiener ist eine sonderbare Mischung, worin
alle erdenklichen Leidenschaften und Eigenthümlichkeiten sich derartig
durchdringen und binden, daß nichts übrig bleibt, als der completeste
Indifferentismus.
Man hat die daraus entspringenden Stimmungen und Zustände
oft einer ungemessenen Polizeifurcht zugeschrieben. Allerdings mag
auch diese im Spiele gewesen sein, als der Wiener Charakter sich so,
wie er sich jetzt zeigt, auszubilden anfing. Die Stärke der Compres-
sion hängt in jedem Falle von der Compressibilität eines Elements
ab. Der Wiener war nun einmal für dieses Schreck- und Gespen«
sterbild empfänglicher, als irgend ein anderes Menschenkind, und diese
Furcht ist seit jeher ein stehendes Uebel bei den Großvätern, wie
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