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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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hat. Der Abend war einer der interessantesten. Es ist wohl in den
Annalen der Bühne überhaupt selten, daß ein Bruder die Dichtung und
der andere die Musik geliefert hat; ein Fall, wie der vorliegende, mag
jedoch einzig in seiner Art sein. Ein Meister, dessen Name und Me¬
lodien von einem Ende der gebildeten Welt bis zum andern widerhallen,
umspinnt mit den Sirenenfaden seiner Töne die lückenhafte Schöpfung,
die sein todter Bruder hinterlassen. Mit schmeichelnden Melodien laust
er den Worten voraus, um dem Vermächtnis) des Verstorbenen ein freund¬
liches Ohr zu erobern, mit sanften Klangen folgt er ihnen nach, um
Versöhnung, Mitgefühl bei dem Hörer zu erwecken. Ueberall, wo eine
Lücke ist, spannt er seinen goldenen Mantel aus, um sie zu verhüllen.
Und doch wagen wir zu behaupten, daß jeder von den beiden Brüdern
der Wirkung des andern geschadet hat. Sprechen wir zuerst von dem
Dichter. Das Michael Beer'sche Stück leidet an dem Fehler, daß
es eigentlich zwei Stücke bildet. Bis zur Mitte des dritten Actes han¬
delt es sich darum, ob der moralische Struensee Sieger bleibt oder
nicht, ob die Gewalt des Bürgerministers, des kecken Neuerers, der
deutsche Bildung, freien Gedanken und freies Wort in Dänemark zur
Herrschaft gebracht hat, den Platz behauptet. In den andern dritthalb
Acten handelt es sich um das physische Schicksal Struensee's, ob er
geköpft werden oder blos gefangen bleiben soll. Da nun das Interesse
an dem moralischen Struensee bei Weitem das überwiegende ist, so sind,
nachdem dieser vernichtet ist, die andern Acte von schwächerer Wirkung
und fast überflüssig. Laube hat in seinem Struensee das wohl begriffen
und hat kluger Weise den physischen und moralischen Untergang seines
Helden gleichzeitig eintreten lassen. Der Laubesche Struensee hat we¬
niger lyrisches Pathos als der Michael Beer'sche, aber er ist bühnen¬
praktischer, moderner und hat namentlich Einen festgezeichneten, von einer
sittlichen Idee getragenen Charakter (Guldberg) aufzuweisen, der dem
Stücke eine Einheit gibt, die Michael Beer vermissen laßt. Beide, Laube
wie Michael Beer, haben sich jedoch an dem Haupthelden in gleicher
Weise versündigt. Beide zeichnen ihn der Königin gegenüber als einen
schmachtenden Liebhaber, in der Weise des Don Carlos. Ein Mann
wie Struensee, der Staatsmann, Gelehrter und entschlossener Refor¬
mator ist, liebt und schmachtet nicht mehr wie ein zwanzigjähriger Jüng¬
ling, er liebt die Königin entweder aus Ehrgeiz oder aus jener heftigen
Sinnlichkeit, die cholerischen Charakteren und heftigen Geistern oft eigen¬
thümlich ist. Ein französischer Dramatiker hätte Struensee und die Kö¬
nigin in vollständigem verbrecherischen Liebesverband dargestellt, die Kö¬
nigin in den Netzen des ehrgeizigen Ministers, den Minister in leiden¬
schaftlicher Heftigkeit im Genusse seiner Herrin. Der deutsche Dichter
wagte nicht ein solches Verhältniß feinem sittlichem Publicum zu bieten,
durfte es vielleicht mit Recht nicht wagen; darum statteten Beide ihren
Helden nicht als besitzenden, sondern als schmachtenden Schwärmer dar
und verzeichneten so den Hauptcharakter. Bei Michael Beer tritt zu


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hat. Der Abend war einer der interessantesten. Es ist wohl in den
Annalen der Bühne überhaupt selten, daß ein Bruder die Dichtung und
der andere die Musik geliefert hat; ein Fall, wie der vorliegende, mag
jedoch einzig in seiner Art sein. Ein Meister, dessen Name und Me¬
lodien von einem Ende der gebildeten Welt bis zum andern widerhallen,
umspinnt mit den Sirenenfaden seiner Töne die lückenhafte Schöpfung,
die sein todter Bruder hinterlassen. Mit schmeichelnden Melodien laust
er den Worten voraus, um dem Vermächtnis) des Verstorbenen ein freund¬
liches Ohr zu erobern, mit sanften Klangen folgt er ihnen nach, um
Versöhnung, Mitgefühl bei dem Hörer zu erwecken. Ueberall, wo eine
Lücke ist, spannt er seinen goldenen Mantel aus, um sie zu verhüllen.
Und doch wagen wir zu behaupten, daß jeder von den beiden Brüdern
der Wirkung des andern geschadet hat. Sprechen wir zuerst von dem
Dichter. Das Michael Beer'sche Stück leidet an dem Fehler, daß
es eigentlich zwei Stücke bildet. Bis zur Mitte des dritten Actes han¬
delt es sich darum, ob der moralische Struensee Sieger bleibt oder
nicht, ob die Gewalt des Bürgerministers, des kecken Neuerers, der
deutsche Bildung, freien Gedanken und freies Wort in Dänemark zur
Herrschaft gebracht hat, den Platz behauptet. In den andern dritthalb
Acten handelt es sich um das physische Schicksal Struensee's, ob er
geköpft werden oder blos gefangen bleiben soll. Da nun das Interesse
an dem moralischen Struensee bei Weitem das überwiegende ist, so sind,
nachdem dieser vernichtet ist, die andern Acte von schwächerer Wirkung
und fast überflüssig. Laube hat in seinem Struensee das wohl begriffen
und hat kluger Weise den physischen und moralischen Untergang seines
Helden gleichzeitig eintreten lassen. Der Laubesche Struensee hat we¬
niger lyrisches Pathos als der Michael Beer'sche, aber er ist bühnen¬
praktischer, moderner und hat namentlich Einen festgezeichneten, von einer
sittlichen Idee getragenen Charakter (Guldberg) aufzuweisen, der dem
Stücke eine Einheit gibt, die Michael Beer vermissen laßt. Beide, Laube
wie Michael Beer, haben sich jedoch an dem Haupthelden in gleicher
Weise versündigt. Beide zeichnen ihn der Königin gegenüber als einen
schmachtenden Liebhaber, in der Weise des Don Carlos. Ein Mann
wie Struensee, der Staatsmann, Gelehrter und entschlossener Refor¬
mator ist, liebt und schmachtet nicht mehr wie ein zwanzigjähriger Jüng¬
ling, er liebt die Königin entweder aus Ehrgeiz oder aus jener heftigen
Sinnlichkeit, die cholerischen Charakteren und heftigen Geistern oft eigen¬
thümlich ist. Ein französischer Dramatiker hätte Struensee und die Kö¬
nigin in vollständigem verbrecherischen Liebesverband dargestellt, die Kö¬
nigin in den Netzen des ehrgeizigen Ministers, den Minister in leiden¬
schaftlicher Heftigkeit im Genusse seiner Herrin. Der deutsche Dichter
wagte nicht ein solches Verhältniß feinem sittlichem Publicum zu bieten,
durfte es vielleicht mit Recht nicht wagen; darum statteten Beide ihren
Helden nicht als besitzenden, sondern als schmachtenden Schwärmer dar
und verzeichneten so den Hauptcharakter. Bei Michael Beer tritt zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/513>, abgerufen am 04.07.2024.