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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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haften Meeresstille auf den großen, ewigen Schmerz der Natur horchen,
den sie ihm als Muttersegen "heimlich strömet in das Herz". Und
wie der Genius immer das Instrument, die technischen Hilfsmittel,
durch welche er sichtbar wird, zu erweitern und seinen' kühnsten Inten¬
tionen dienstbar zu machen weiß, hat sich auch Lenau eine eigenthüm¬
liche Dichtersprache gebildet, von allen fremden Einflüssen frei, nur an
die marmorne Kraft und entschiedene Kürze antiker Sprachformen mah¬
nend, dabei schmiegsam und festgeschlossen seine tiefsten und erhabensten
Gedanken wie die zartesten Regungen seiner Empfindung vollständig
verkörpernd. Lauscht man lange der Melodie Lenau'scher Verse, so
glaubt man die Windsbraut zu vernehmen, die dem Uneingeweihten
schreckensvoll an'ö Ohr schlägt, wer aber mit allen Reizen der Natur
vertraut ist, dem wird sie zu einer gewaltigen, ungeheuern Musik, in die
sich das Rauschen brechender Eichen, wie das Flüstern zephyrbewegter
Rosen, die Jammertöne zerschlagener Volker, wie der Jubel spielender
Kinder verloren haben.

Sah er schon die Brust der leblosen Natur vom Ein- und Ausathmen
eines ewigen Schmerzes gehoben, mußte ihm derselbe mit noch schnei¬
denden! Spitzen erscheinen, als er sein Auge auf die Geschichte und
die lebendige Menschheit warf. Das unergründliche Weh, die Sehn¬
sucht nach einer Vollendung, in der sich die höchste Seligkeit mit der
höchsten Erkenntniß zusammenschließen, hatte er allmälig aus der Be¬
fangenheit seines Selbst auf die objective Welt übertragen und wie
es ihm in der Natur als Verlornes Paradies, im Individuum als die
verlorene Versöhnung mit Gott erkennbar geworden, trat es ihm in
der Menschheit als die verlorene politische Freiheit entgegen. Er er¬
weiterte den Schmerz um sich zum Schmerz um die Welt und
dies ist der eigentliche, so oft verhöhnte und nur von den Edelsten der
Zeit, von geistigen Atlassen getragene Weltschmerz. Die Freiheit
hat keinen keuschem Sänger gefunden, dem sie unberührt von den
Schmuzflecken des Tages in so reiner Gestalt erschienen wäre, mag
er nun in den Polenliedern plastische Elegien um sie weinen oder in
seinen spätern Schöpfungen mitten unter den blutigen Religionskriegen
des Mittelalters sie als das einzige zu rettende Banner schwingen.
Aber auch den Kampf um die politische Erlösung der Völker, der sich
in wechselnden Formen durch die Geschichte zieht, betrachtete er nur
in Beziehung zur allgemeinen Erlösung aus der Qual des Mensch¬
seins, das fortwährend zu zweifelhafter Ahnung verdammt, tantalusartig
nach dem Quell der Gewißheit schmachtet. Indem er alle Dinge


haften Meeresstille auf den großen, ewigen Schmerz der Natur horchen,
den sie ihm als Muttersegen „heimlich strömet in das Herz". Und
wie der Genius immer das Instrument, die technischen Hilfsmittel,
durch welche er sichtbar wird, zu erweitern und seinen' kühnsten Inten¬
tionen dienstbar zu machen weiß, hat sich auch Lenau eine eigenthüm¬
liche Dichtersprache gebildet, von allen fremden Einflüssen frei, nur an
die marmorne Kraft und entschiedene Kürze antiker Sprachformen mah¬
nend, dabei schmiegsam und festgeschlossen seine tiefsten und erhabensten
Gedanken wie die zartesten Regungen seiner Empfindung vollständig
verkörpernd. Lauscht man lange der Melodie Lenau'scher Verse, so
glaubt man die Windsbraut zu vernehmen, die dem Uneingeweihten
schreckensvoll an'ö Ohr schlägt, wer aber mit allen Reizen der Natur
vertraut ist, dem wird sie zu einer gewaltigen, ungeheuern Musik, in die
sich das Rauschen brechender Eichen, wie das Flüstern zephyrbewegter
Rosen, die Jammertöne zerschlagener Volker, wie der Jubel spielender
Kinder verloren haben.

Sah er schon die Brust der leblosen Natur vom Ein- und Ausathmen
eines ewigen Schmerzes gehoben, mußte ihm derselbe mit noch schnei¬
denden! Spitzen erscheinen, als er sein Auge auf die Geschichte und
die lebendige Menschheit warf. Das unergründliche Weh, die Sehn¬
sucht nach einer Vollendung, in der sich die höchste Seligkeit mit der
höchsten Erkenntniß zusammenschließen, hatte er allmälig aus der Be¬
fangenheit seines Selbst auf die objective Welt übertragen und wie
es ihm in der Natur als Verlornes Paradies, im Individuum als die
verlorene Versöhnung mit Gott erkennbar geworden, trat es ihm in
der Menschheit als die verlorene politische Freiheit entgegen. Er er¬
weiterte den Schmerz um sich zum Schmerz um die Welt und
dies ist der eigentliche, so oft verhöhnte und nur von den Edelsten der
Zeit, von geistigen Atlassen getragene Weltschmerz. Die Freiheit
hat keinen keuschem Sänger gefunden, dem sie unberührt von den
Schmuzflecken des Tages in so reiner Gestalt erschienen wäre, mag
er nun in den Polenliedern plastische Elegien um sie weinen oder in
seinen spätern Schöpfungen mitten unter den blutigen Religionskriegen
des Mittelalters sie als das einzige zu rettende Banner schwingen.
Aber auch den Kampf um die politische Erlösung der Völker, der sich
in wechselnden Formen durch die Geschichte zieht, betrachtete er nur
in Beziehung zur allgemeinen Erlösung aus der Qual des Mensch¬
seins, das fortwährend zu zweifelhafter Ahnung verdammt, tantalusartig
nach dem Quell der Gewißheit schmachtet. Indem er alle Dinge


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[0452] haften Meeresstille auf den großen, ewigen Schmerz der Natur horchen, den sie ihm als Muttersegen „heimlich strömet in das Herz". Und wie der Genius immer das Instrument, die technischen Hilfsmittel, durch welche er sichtbar wird, zu erweitern und seinen' kühnsten Inten¬ tionen dienstbar zu machen weiß, hat sich auch Lenau eine eigenthüm¬ liche Dichtersprache gebildet, von allen fremden Einflüssen frei, nur an die marmorne Kraft und entschiedene Kürze antiker Sprachformen mah¬ nend, dabei schmiegsam und festgeschlossen seine tiefsten und erhabensten Gedanken wie die zartesten Regungen seiner Empfindung vollständig verkörpernd. Lauscht man lange der Melodie Lenau'scher Verse, so glaubt man die Windsbraut zu vernehmen, die dem Uneingeweihten schreckensvoll an'ö Ohr schlägt, wer aber mit allen Reizen der Natur vertraut ist, dem wird sie zu einer gewaltigen, ungeheuern Musik, in die sich das Rauschen brechender Eichen, wie das Flüstern zephyrbewegter Rosen, die Jammertöne zerschlagener Volker, wie der Jubel spielender Kinder verloren haben. Sah er schon die Brust der leblosen Natur vom Ein- und Ausathmen eines ewigen Schmerzes gehoben, mußte ihm derselbe mit noch schnei¬ denden! Spitzen erscheinen, als er sein Auge auf die Geschichte und die lebendige Menschheit warf. Das unergründliche Weh, die Sehn¬ sucht nach einer Vollendung, in der sich die höchste Seligkeit mit der höchsten Erkenntniß zusammenschließen, hatte er allmälig aus der Be¬ fangenheit seines Selbst auf die objective Welt übertragen und wie es ihm in der Natur als Verlornes Paradies, im Individuum als die verlorene Versöhnung mit Gott erkennbar geworden, trat es ihm in der Menschheit als die verlorene politische Freiheit entgegen. Er er¬ weiterte den Schmerz um sich zum Schmerz um die Welt und dies ist der eigentliche, so oft verhöhnte und nur von den Edelsten der Zeit, von geistigen Atlassen getragene Weltschmerz. Die Freiheit hat keinen keuschem Sänger gefunden, dem sie unberührt von den Schmuzflecken des Tages in so reiner Gestalt erschienen wäre, mag er nun in den Polenliedern plastische Elegien um sie weinen oder in seinen spätern Schöpfungen mitten unter den blutigen Religionskriegen des Mittelalters sie als das einzige zu rettende Banner schwingen. Aber auch den Kampf um die politische Erlösung der Völker, der sich in wechselnden Formen durch die Geschichte zieht, betrachtete er nur in Beziehung zur allgemeinen Erlösung aus der Qual des Mensch¬ seins, das fortwährend zu zweifelhafter Ahnung verdammt, tantalusartig nach dem Quell der Gewißheit schmachtet. Indem er alle Dinge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/452>, abgerufen am 23.06.2024.