Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dieser liebenswürdigen Chronik, das lebendige Archiv einer kleinen Ge¬
meinde, die man wachsen und sich vervollkommnen sieht unter der Lei¬
tung ihrer würdigsten Mitglieder, unter welchen besonders der Semi¬
narist Jvo und der Schulmeister von Lauterbach sich auszeichnen.

Ich habe genug gesagt, um das innere Verdienst dieses Werkes
und seinen raschen Erfolg begreiflich zu machen. Jenes Verdienst liegt
in der Verschmelzung der Neuheit mit einem kindlichen Anschmiegen
an die guten literarischen Ueberlieferungen. Das sind wahrhaft
deutsche Bilder, und doch wird man ihnen nicht den übermäßigen
Idealismus, die gefährliche Indifferenz vorwerfen, die in der letzten
Zeit so lebhafte Reaction Hervorgerufe". Um diesem Idealismus zu
entgehen, um sich zu den Kämpfen des praktischen Lebens vorzuberei¬
ten, hat sich Deutschland verleiten lassen, seinen Genius zu verleug¬
nen; es hat zu einer Literatur u l" Voltaire die Zuflucht genommen,
die ihm nie zusagen wird; es haben sich mancherlei Schulen mit Ge¬
räusch gebildet, welche Ironie und Spott als ein heilsames Mittel
gegen die bercinschendcn Verlockungen des Mysticismus empfohlen ha¬
ben. Was für frivole Schriften sind seitdem erschienen, was für ge¬
machte Begeisterung! Voltaire versichert, er habe sein schneidendstes
Werk, den Candide, in den Papieren eines deutschen Doctors gefunden;
in der That könnte man einen Augenblick glauben, daß diese Herrn
den Scherz für Ernst nahmen und nach Minden liefen, um die Fort¬
setzung Candidens in den Taschen des Doctor Ralph zu suchen. Ver¬
ständige Geister erkennen jetzt, daß man sich auf einen falschen Weg
verlor; der Erfolg Auerbach's ist ein beruhigendes Symptom; er hatte
4837 mit einem Roman "Spinoza" begonnen, der zwar ein unleug¬
bares Talent verrieth, dessen metaphysische Prätensionen aber nicht
gestatteten, die Umwandlungen, die sein Talent durchgemacht, vorher¬
zusehen. Ein anderes Werk "Dichter und Kaufmann", gehörte eben¬
falls jener ehrgeizigen Schule an, welche die Kunst ver wahren Schil¬
derungen durch die hohlen Träumereien des Socialismus verdrängte.
Statt die Menschheit zu regeneriren, beschäftigt sich jetzt Auerbach mit
der Geschichte seines Dorfes, statt mit Spinoza zu predigen, erzählt
er die Abenteuer des Tolpatsch, des Seminaristen, des Schulmeisters.
Als er sich mit der Welt der Chimären beschäftigte, fand er nur ge¬
ringes Gehör; jetzt da er sich auf einen engern und wahrem Rahmen
schränkte, hat alle Welt in Deutschland seine Geschichten gelesen und
ihnen Beifall zugerufen. Herr Auerbach wird in diesem kleinen aber
reichen Gebiet viel mehr wirken, als auf den ungesunden Wolken fal-


dieser liebenswürdigen Chronik, das lebendige Archiv einer kleinen Ge¬
meinde, die man wachsen und sich vervollkommnen sieht unter der Lei¬
tung ihrer würdigsten Mitglieder, unter welchen besonders der Semi¬
narist Jvo und der Schulmeister von Lauterbach sich auszeichnen.

Ich habe genug gesagt, um das innere Verdienst dieses Werkes
und seinen raschen Erfolg begreiflich zu machen. Jenes Verdienst liegt
in der Verschmelzung der Neuheit mit einem kindlichen Anschmiegen
an die guten literarischen Ueberlieferungen. Das sind wahrhaft
deutsche Bilder, und doch wird man ihnen nicht den übermäßigen
Idealismus, die gefährliche Indifferenz vorwerfen, die in der letzten
Zeit so lebhafte Reaction Hervorgerufe». Um diesem Idealismus zu
entgehen, um sich zu den Kämpfen des praktischen Lebens vorzuberei¬
ten, hat sich Deutschland verleiten lassen, seinen Genius zu verleug¬
nen; es hat zu einer Literatur u l» Voltaire die Zuflucht genommen,
die ihm nie zusagen wird; es haben sich mancherlei Schulen mit Ge¬
räusch gebildet, welche Ironie und Spott als ein heilsames Mittel
gegen die bercinschendcn Verlockungen des Mysticismus empfohlen ha¬
ben. Was für frivole Schriften sind seitdem erschienen, was für ge¬
machte Begeisterung! Voltaire versichert, er habe sein schneidendstes
Werk, den Candide, in den Papieren eines deutschen Doctors gefunden;
in der That könnte man einen Augenblick glauben, daß diese Herrn
den Scherz für Ernst nahmen und nach Minden liefen, um die Fort¬
setzung Candidens in den Taschen des Doctor Ralph zu suchen. Ver¬
ständige Geister erkennen jetzt, daß man sich auf einen falschen Weg
verlor; der Erfolg Auerbach's ist ein beruhigendes Symptom; er hatte
4837 mit einem Roman „Spinoza" begonnen, der zwar ein unleug¬
bares Talent verrieth, dessen metaphysische Prätensionen aber nicht
gestatteten, die Umwandlungen, die sein Talent durchgemacht, vorher¬
zusehen. Ein anderes Werk „Dichter und Kaufmann", gehörte eben¬
falls jener ehrgeizigen Schule an, welche die Kunst ver wahren Schil¬
derungen durch die hohlen Träumereien des Socialismus verdrängte.
Statt die Menschheit zu regeneriren, beschäftigt sich jetzt Auerbach mit
der Geschichte seines Dorfes, statt mit Spinoza zu predigen, erzählt
er die Abenteuer des Tolpatsch, des Seminaristen, des Schulmeisters.
Als er sich mit der Welt der Chimären beschäftigte, fand er nur ge¬
ringes Gehör; jetzt da er sich auf einen engern und wahrem Rahmen
schränkte, hat alle Welt in Deutschland seine Geschichten gelesen und
ihnen Beifall zugerufen. Herr Auerbach wird in diesem kleinen aber
reichen Gebiet viel mehr wirken, als auf den ungesunden Wolken fal-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0039" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/183060"/>
          <p xml:id="ID_60" prev="#ID_59"> dieser liebenswürdigen Chronik, das lebendige Archiv einer kleinen Ge¬<lb/>
meinde, die man wachsen und sich vervollkommnen sieht unter der Lei¬<lb/>
tung ihrer würdigsten Mitglieder, unter welchen besonders der Semi¬<lb/>
narist Jvo und der Schulmeister von Lauterbach sich auszeichnen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_61" next="#ID_62"> Ich habe genug gesagt, um das innere Verdienst dieses Werkes<lb/>
und seinen raschen Erfolg begreiflich zu machen. Jenes Verdienst liegt<lb/>
in der Verschmelzung der Neuheit mit einem kindlichen Anschmiegen<lb/>
an die guten literarischen Ueberlieferungen. Das sind wahrhaft<lb/>
deutsche Bilder, und doch wird man ihnen nicht den übermäßigen<lb/>
Idealismus, die gefährliche Indifferenz vorwerfen, die in der letzten<lb/>
Zeit so lebhafte Reaction Hervorgerufe». Um diesem Idealismus zu<lb/>
entgehen, um sich zu den Kämpfen des praktischen Lebens vorzuberei¬<lb/>
ten, hat sich Deutschland verleiten lassen, seinen Genius zu verleug¬<lb/>
nen; es hat zu einer Literatur u l» Voltaire die Zuflucht genommen,<lb/>
die ihm nie zusagen wird; es haben sich mancherlei Schulen mit Ge¬<lb/>
räusch gebildet, welche Ironie und Spott als ein heilsames Mittel<lb/>
gegen die bercinschendcn Verlockungen des Mysticismus empfohlen ha¬<lb/>
ben. Was für frivole Schriften sind seitdem erschienen, was für ge¬<lb/>
machte Begeisterung! Voltaire versichert, er habe sein schneidendstes<lb/>
Werk, den Candide, in den Papieren eines deutschen Doctors gefunden;<lb/>
in der That könnte man einen Augenblick glauben, daß diese Herrn<lb/>
den Scherz für Ernst nahmen und nach Minden liefen, um die Fort¬<lb/>
setzung Candidens in den Taschen des Doctor Ralph zu suchen. Ver¬<lb/>
ständige Geister erkennen jetzt, daß man sich auf einen falschen Weg<lb/>
verlor; der Erfolg Auerbach's ist ein beruhigendes Symptom; er hatte<lb/>
4837 mit einem Roman &#x201E;Spinoza" begonnen, der zwar ein unleug¬<lb/>
bares Talent verrieth, dessen metaphysische Prätensionen aber nicht<lb/>
gestatteten, die Umwandlungen, die sein Talent durchgemacht, vorher¬<lb/>
zusehen. Ein anderes Werk &#x201E;Dichter und Kaufmann", gehörte eben¬<lb/>
falls jener ehrgeizigen Schule an, welche die Kunst ver wahren Schil¬<lb/>
derungen durch die hohlen Träumereien des Socialismus verdrängte.<lb/>
Statt die Menschheit zu regeneriren, beschäftigt sich jetzt Auerbach mit<lb/>
der Geschichte seines Dorfes, statt mit Spinoza zu predigen, erzählt<lb/>
er die Abenteuer des Tolpatsch, des Seminaristen, des Schulmeisters.<lb/>
Als er sich mit der Welt der Chimären beschäftigte, fand er nur ge¬<lb/>
ringes Gehör; jetzt da er sich auf einen engern und wahrem Rahmen<lb/>
schränkte, hat alle Welt in Deutschland seine Geschichten gelesen und<lb/>
ihnen Beifall zugerufen. Herr Auerbach wird in diesem kleinen aber<lb/>
reichen Gebiet viel mehr wirken, als auf den ungesunden Wolken fal-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0039] dieser liebenswürdigen Chronik, das lebendige Archiv einer kleinen Ge¬ meinde, die man wachsen und sich vervollkommnen sieht unter der Lei¬ tung ihrer würdigsten Mitglieder, unter welchen besonders der Semi¬ narist Jvo und der Schulmeister von Lauterbach sich auszeichnen. Ich habe genug gesagt, um das innere Verdienst dieses Werkes und seinen raschen Erfolg begreiflich zu machen. Jenes Verdienst liegt in der Verschmelzung der Neuheit mit einem kindlichen Anschmiegen an die guten literarischen Ueberlieferungen. Das sind wahrhaft deutsche Bilder, und doch wird man ihnen nicht den übermäßigen Idealismus, die gefährliche Indifferenz vorwerfen, die in der letzten Zeit so lebhafte Reaction Hervorgerufe». Um diesem Idealismus zu entgehen, um sich zu den Kämpfen des praktischen Lebens vorzuberei¬ ten, hat sich Deutschland verleiten lassen, seinen Genius zu verleug¬ nen; es hat zu einer Literatur u l» Voltaire die Zuflucht genommen, die ihm nie zusagen wird; es haben sich mancherlei Schulen mit Ge¬ räusch gebildet, welche Ironie und Spott als ein heilsames Mittel gegen die bercinschendcn Verlockungen des Mysticismus empfohlen ha¬ ben. Was für frivole Schriften sind seitdem erschienen, was für ge¬ machte Begeisterung! Voltaire versichert, er habe sein schneidendstes Werk, den Candide, in den Papieren eines deutschen Doctors gefunden; in der That könnte man einen Augenblick glauben, daß diese Herrn den Scherz für Ernst nahmen und nach Minden liefen, um die Fort¬ setzung Candidens in den Taschen des Doctor Ralph zu suchen. Ver¬ ständige Geister erkennen jetzt, daß man sich auf einen falschen Weg verlor; der Erfolg Auerbach's ist ein beruhigendes Symptom; er hatte 4837 mit einem Roman „Spinoza" begonnen, der zwar ein unleug¬ bares Talent verrieth, dessen metaphysische Prätensionen aber nicht gestatteten, die Umwandlungen, die sein Talent durchgemacht, vorher¬ zusehen. Ein anderes Werk „Dichter und Kaufmann", gehörte eben¬ falls jener ehrgeizigen Schule an, welche die Kunst ver wahren Schil¬ derungen durch die hohlen Träumereien des Socialismus verdrängte. Statt die Menschheit zu regeneriren, beschäftigt sich jetzt Auerbach mit der Geschichte seines Dorfes, statt mit Spinoza zu predigen, erzählt er die Abenteuer des Tolpatsch, des Seminaristen, des Schulmeisters. Als er sich mit der Welt der Chimären beschäftigte, fand er nur ge¬ ringes Gehör; jetzt da er sich auf einen engern und wahrem Rahmen schränkte, hat alle Welt in Deutschland seine Geschichten gelesen und ihnen Beifall zugerufen. Herr Auerbach wird in diesem kleinen aber reichen Gebiet viel mehr wirken, als auf den ungesunden Wolken fal-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/39
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/39>, abgerufen am 24.07.2024.