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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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fliegt, nicht mehr durch die Censur unterdrückt werden kann, werden
die Fesseln sprengen, die Westphalen bis jeyt vom allgemeinen Völker-
Verkehr zurückhielten; Deutschland wird eine neue Provinz gewinnen,
welche bisher nur in geographischen Lehrbüchern, aber nicht im Bewußt¬
sein der Nation eingeschrieben war, und diese Provinz an sich wird so¬
wohl an Ansehen und Einfluß, wie an Selbständigkeit und Selbst¬
vertrauen zunehmen.

Westphalen wird fast nach allen Richtungen hin von Eisenbahnen
durchschnitten werden. Die Hauptbahn von Minden nach Cöln ist
der Vollendung nahe. Die Cöln-Mindener-Thüringer Verbindungs¬
bahn, deren Endpunkte Cassel und Hainen sind, ist vermessen und sanc-
tionirt, die Münster-Hammer Zweigbahn schon im Bau begriffen, und
die von Dortmund nach Elberfeld bedeutend vorgerückt. Bei letzterer
Bahn darf man eine Curiosität nicht unerwähnt lassen, welche nicht
nur Alterthumsforschern bemerkenswerth sein wird. Auf dem Platze, auf
welchem der Dortmunder Bahnhof abgesteckt ist, erheben sich die bei¬
den alten Linden, unter denen früher der Hauptsitz der Vehme gewe¬
sen, und die Freiligrath noch kürzlich in seinem ansprechenden Ge¬
dichte:

gefeiert hat. Man gerieth anfangs in Verlegenheit, was man mit
den noch grünenden Monumenten germanischer Vorzeit beginnen solle.
Endlich hat das Eisenbahn-Comite beschlossen, den Platz frei zu lassen
und die Bäume mit einem dichten, festen Stacket zu umgeben, damit sie
hier, inmitten des allgemeinen Weltverkehrs, umkreist von zischenden
Locomotiven, ihr historisches Dasein ruhig enden könnten. Da werden
denn wohl in Zukunft die Bäume der Bcutesucht reisender Engländer
ihre grünen Blätter und duftenden Blüthen opfern müssen; sie wer¬
den wohl bald zum letzten Male gegrünt haben. Ein merkwürdiger
Gegensatz, auf einem Eisenbahnhofe der Sitz des Vehmgerichts! könnte
man doch überall die Ruinen mittelalterlicher Institutionen so leicht
mit den Fortschritten der Gegenwart vereinigen; unsern Staatsmän¬
nern würde ihr Amt dann weniger schwer werden.

Das Bergland hat vor der Hand noch wenig Aussicht, in diesen
allgemeinen Völkerverkehr aufgenommen zu werden, eS müßte denn
mit der Bahn nach Siegen, welche durch das anmuthige, fabrikenreiche
Leonethal führen soll, Ernst werden. Im Flachland dagegen wird bald
jedes Dörfchen mit Ostende und Marseille, mit Basel und Trieft, mit


fliegt, nicht mehr durch die Censur unterdrückt werden kann, werden
die Fesseln sprengen, die Westphalen bis jeyt vom allgemeinen Völker-
Verkehr zurückhielten; Deutschland wird eine neue Provinz gewinnen,
welche bisher nur in geographischen Lehrbüchern, aber nicht im Bewußt¬
sein der Nation eingeschrieben war, und diese Provinz an sich wird so¬
wohl an Ansehen und Einfluß, wie an Selbständigkeit und Selbst¬
vertrauen zunehmen.

Westphalen wird fast nach allen Richtungen hin von Eisenbahnen
durchschnitten werden. Die Hauptbahn von Minden nach Cöln ist
der Vollendung nahe. Die Cöln-Mindener-Thüringer Verbindungs¬
bahn, deren Endpunkte Cassel und Hainen sind, ist vermessen und sanc-
tionirt, die Münster-Hammer Zweigbahn schon im Bau begriffen, und
die von Dortmund nach Elberfeld bedeutend vorgerückt. Bei letzterer
Bahn darf man eine Curiosität nicht unerwähnt lassen, welche nicht
nur Alterthumsforschern bemerkenswerth sein wird. Auf dem Platze, auf
welchem der Dortmunder Bahnhof abgesteckt ist, erheben sich die bei¬
den alten Linden, unter denen früher der Hauptsitz der Vehme gewe¬
sen, und die Freiligrath noch kürzlich in seinem ansprechenden Ge¬
dichte:

gefeiert hat. Man gerieth anfangs in Verlegenheit, was man mit
den noch grünenden Monumenten germanischer Vorzeit beginnen solle.
Endlich hat das Eisenbahn-Comite beschlossen, den Platz frei zu lassen
und die Bäume mit einem dichten, festen Stacket zu umgeben, damit sie
hier, inmitten des allgemeinen Weltverkehrs, umkreist von zischenden
Locomotiven, ihr historisches Dasein ruhig enden könnten. Da werden
denn wohl in Zukunft die Bäume der Bcutesucht reisender Engländer
ihre grünen Blätter und duftenden Blüthen opfern müssen; sie wer¬
den wohl bald zum letzten Male gegrünt haben. Ein merkwürdiger
Gegensatz, auf einem Eisenbahnhofe der Sitz des Vehmgerichts! könnte
man doch überall die Ruinen mittelalterlicher Institutionen so leicht
mit den Fortschritten der Gegenwart vereinigen; unsern Staatsmän¬
nern würde ihr Amt dann weniger schwer werden.

Das Bergland hat vor der Hand noch wenig Aussicht, in diesen
allgemeinen Völkerverkehr aufgenommen zu werden, eS müßte denn
mit der Bahn nach Siegen, welche durch das anmuthige, fabrikenreiche
Leonethal führen soll, Ernst werden. Im Flachland dagegen wird bald
jedes Dörfchen mit Ostende und Marseille, mit Basel und Trieft, mit


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[0368] fliegt, nicht mehr durch die Censur unterdrückt werden kann, werden die Fesseln sprengen, die Westphalen bis jeyt vom allgemeinen Völker- Verkehr zurückhielten; Deutschland wird eine neue Provinz gewinnen, welche bisher nur in geographischen Lehrbüchern, aber nicht im Bewußt¬ sein der Nation eingeschrieben war, und diese Provinz an sich wird so¬ wohl an Ansehen und Einfluß, wie an Selbständigkeit und Selbst¬ vertrauen zunehmen. Westphalen wird fast nach allen Richtungen hin von Eisenbahnen durchschnitten werden. Die Hauptbahn von Minden nach Cöln ist der Vollendung nahe. Die Cöln-Mindener-Thüringer Verbindungs¬ bahn, deren Endpunkte Cassel und Hainen sind, ist vermessen und sanc- tionirt, die Münster-Hammer Zweigbahn schon im Bau begriffen, und die von Dortmund nach Elberfeld bedeutend vorgerückt. Bei letzterer Bahn darf man eine Curiosität nicht unerwähnt lassen, welche nicht nur Alterthumsforschern bemerkenswerth sein wird. Auf dem Platze, auf welchem der Dortmunder Bahnhof abgesteckt ist, erheben sich die bei¬ den alten Linden, unter denen früher der Hauptsitz der Vehme gewe¬ sen, und die Freiligrath noch kürzlich in seinem ansprechenden Ge¬ dichte: gefeiert hat. Man gerieth anfangs in Verlegenheit, was man mit den noch grünenden Monumenten germanischer Vorzeit beginnen solle. Endlich hat das Eisenbahn-Comite beschlossen, den Platz frei zu lassen und die Bäume mit einem dichten, festen Stacket zu umgeben, damit sie hier, inmitten des allgemeinen Weltverkehrs, umkreist von zischenden Locomotiven, ihr historisches Dasein ruhig enden könnten. Da werden denn wohl in Zukunft die Bäume der Bcutesucht reisender Engländer ihre grünen Blätter und duftenden Blüthen opfern müssen; sie wer¬ den wohl bald zum letzten Male gegrünt haben. Ein merkwürdiger Gegensatz, auf einem Eisenbahnhofe der Sitz des Vehmgerichts! könnte man doch überall die Ruinen mittelalterlicher Institutionen so leicht mit den Fortschritten der Gegenwart vereinigen; unsern Staatsmän¬ nern würde ihr Amt dann weniger schwer werden. Das Bergland hat vor der Hand noch wenig Aussicht, in diesen allgemeinen Völkerverkehr aufgenommen zu werden, eS müßte denn mit der Bahn nach Siegen, welche durch das anmuthige, fabrikenreiche Leonethal führen soll, Ernst werden. Im Flachland dagegen wird bald jedes Dörfchen mit Ostende und Marseille, mit Basel und Trieft, mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/368>, abgerufen am 24.07.2024.