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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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melden pflegen: die Stadt ist wie ausgestorben, Neues gibt es nichts
zu melden, das Leben ist ausgedörrt! Wie? in der Arbeitsstätte so vieler
grübelnder Geister, so vielen industriellen Fleißes, so raschen auf - und
absteigenden Glücks und Elends, so heftiger Reibung zwischen Armuth
und Reichthum, zwischen Gewalt und Ohnmacht -- ist da ein Stillstand,
ein Todtsein möglich? Gebärt nicht da jeder Augenblick Leben, Bewe¬
gung, Geschichte? Euer eigenes Gehirn, Ihr geistesbaaren Scribenten ist
ausgestorben. Jede Straße mit ihren Hausern, jedes Haus mit seinen
Stockwerken, jedes Stockwerk mit seinen Familien, jede Familie mit ihren
einzelnen Gliedern und Individuen, bietet Stoss und Beitrag zur socialen
Geschichte. "Greift nur hinein in's volle Menschenleben und wo Jhrs
packt----da werdet Ihr gepackt." Greift nur hinein -- das ist leicht
gesagt. Aber wagt es Einer, so greift man ihm selbst an die Gurgel
und schleppt ihn vor die Gerichte und verklagt ihn als Verläumder, als
Ruhestörer und Ehreabschneider. Wo der Staat, der allgemeine Haus¬
halt, nicht der gläserne durchsichtige Palast ist, der er zur Nechenschafts-
ablegung für Alle sein sollte, wo der Staat selbst sein Gebäu mit schwarzen
Tüchern überall verhängt und Schergen und Wachen überall ausstellt,
damit kein forschender Blick seine heimlichen Treppen und Tapetenthüren
erspähe, wie soll da nicht der Einzelne seinen Biberbau, sein Maulwurfs¬
loch sorgsam verstopfen? Die öffentliche Meinung macht selbst für ihn
Polizei und verurtheilt denjenigen, der das ,,geweihte" Leben der Familie der
Oeffentlichkeit preis gibt. Im Civilisationsleben der europäischen Welt ist das
Nackte verpönt, und so groß ist die Furcht vor der Enthüllung der eige¬
nen Verkrüppelung, daß man es als Verletzung des gesellschaftlichen Ge¬
setzes betrachtet, wenn man die Unsittlichkeit des Nachbarhauses der Welt
blos stellt, wie sehr auch die Gesellschaft durch solche Enthüllung gewönne.
Das "sittliche" Deutschland, zumal die von unten bis hinauf zugeknöpft
und vermummt geht, wie die Altenburger Bäuerinnen--schreit Ach und
Weh, wenn Jemand einen Fetzen von ihrer Heimlichkeit abreißt und Ihr
werdet hören, wie sie jammern werden, wenn der erste mündliche Proceß
in Preußen mit seiner halben, viertel, sechzehnte! Oeffentlichkeit hier und
da ein häßliches Geheimniß der Welt enthüllen wird. Das kann ja mor¬
gen auch mir passiren, wird sich Mancher mit stillem Entsetzen denken und
wir müssen gefaßt sein, daß, wenn erst die Sechzehntel-Oeffentlichkeit der
Gerichtsverhandlungen eingeführt sein wird -- das reactionaire Geschrei
,der bösen Gewissen lauter als je gegen die volle Oeffentlichkeit sich erhe¬
ben wird.




"erlag von Fr. Lud w. Hevbig. -- Redacteur I. Kurant.,.
Druck von Fri edr i es An dra.

melden pflegen: die Stadt ist wie ausgestorben, Neues gibt es nichts
zu melden, das Leben ist ausgedörrt! Wie? in der Arbeitsstätte so vieler
grübelnder Geister, so vielen industriellen Fleißes, so raschen auf - und
absteigenden Glücks und Elends, so heftiger Reibung zwischen Armuth
und Reichthum, zwischen Gewalt und Ohnmacht — ist da ein Stillstand,
ein Todtsein möglich? Gebärt nicht da jeder Augenblick Leben, Bewe¬
gung, Geschichte? Euer eigenes Gehirn, Ihr geistesbaaren Scribenten ist
ausgestorben. Jede Straße mit ihren Hausern, jedes Haus mit seinen
Stockwerken, jedes Stockwerk mit seinen Familien, jede Familie mit ihren
einzelnen Gliedern und Individuen, bietet Stoss und Beitrag zur socialen
Geschichte. „Greift nur hinein in's volle Menschenleben und wo Jhrs
packt----da werdet Ihr gepackt." Greift nur hinein — das ist leicht
gesagt. Aber wagt es Einer, so greift man ihm selbst an die Gurgel
und schleppt ihn vor die Gerichte und verklagt ihn als Verläumder, als
Ruhestörer und Ehreabschneider. Wo der Staat, der allgemeine Haus¬
halt, nicht der gläserne durchsichtige Palast ist, der er zur Nechenschafts-
ablegung für Alle sein sollte, wo der Staat selbst sein Gebäu mit schwarzen
Tüchern überall verhängt und Schergen und Wachen überall ausstellt,
damit kein forschender Blick seine heimlichen Treppen und Tapetenthüren
erspähe, wie soll da nicht der Einzelne seinen Biberbau, sein Maulwurfs¬
loch sorgsam verstopfen? Die öffentliche Meinung macht selbst für ihn
Polizei und verurtheilt denjenigen, der das ,,geweihte" Leben der Familie der
Oeffentlichkeit preis gibt. Im Civilisationsleben der europäischen Welt ist das
Nackte verpönt, und so groß ist die Furcht vor der Enthüllung der eige¬
nen Verkrüppelung, daß man es als Verletzung des gesellschaftlichen Ge¬
setzes betrachtet, wenn man die Unsittlichkeit des Nachbarhauses der Welt
blos stellt, wie sehr auch die Gesellschaft durch solche Enthüllung gewönne.
Das „sittliche" Deutschland, zumal die von unten bis hinauf zugeknöpft
und vermummt geht, wie die Altenburger Bäuerinnen—schreit Ach und
Weh, wenn Jemand einen Fetzen von ihrer Heimlichkeit abreißt und Ihr
werdet hören, wie sie jammern werden, wenn der erste mündliche Proceß
in Preußen mit seiner halben, viertel, sechzehnte! Oeffentlichkeit hier und
da ein häßliches Geheimniß der Welt enthüllen wird. Das kann ja mor¬
gen auch mir passiren, wird sich Mancher mit stillem Entsetzen denken und
wir müssen gefaßt sein, daß, wenn erst die Sechzehntel-Oeffentlichkeit der
Gerichtsverhandlungen eingeführt sein wird — das reactionaire Geschrei
,der bösen Gewissen lauter als je gegen die volle Oeffentlichkeit sich erhe¬
ben wird.




«erlag von Fr. Lud w. Hevbig. — Redacteur I. Kurant.,.
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[0366] melden pflegen: die Stadt ist wie ausgestorben, Neues gibt es nichts zu melden, das Leben ist ausgedörrt! Wie? in der Arbeitsstätte so vieler grübelnder Geister, so vielen industriellen Fleißes, so raschen auf - und absteigenden Glücks und Elends, so heftiger Reibung zwischen Armuth und Reichthum, zwischen Gewalt und Ohnmacht — ist da ein Stillstand, ein Todtsein möglich? Gebärt nicht da jeder Augenblick Leben, Bewe¬ gung, Geschichte? Euer eigenes Gehirn, Ihr geistesbaaren Scribenten ist ausgestorben. Jede Straße mit ihren Hausern, jedes Haus mit seinen Stockwerken, jedes Stockwerk mit seinen Familien, jede Familie mit ihren einzelnen Gliedern und Individuen, bietet Stoss und Beitrag zur socialen Geschichte. „Greift nur hinein in's volle Menschenleben und wo Jhrs packt----da werdet Ihr gepackt." Greift nur hinein — das ist leicht gesagt. Aber wagt es Einer, so greift man ihm selbst an die Gurgel und schleppt ihn vor die Gerichte und verklagt ihn als Verläumder, als Ruhestörer und Ehreabschneider. Wo der Staat, der allgemeine Haus¬ halt, nicht der gläserne durchsichtige Palast ist, der er zur Nechenschafts- ablegung für Alle sein sollte, wo der Staat selbst sein Gebäu mit schwarzen Tüchern überall verhängt und Schergen und Wachen überall ausstellt, damit kein forschender Blick seine heimlichen Treppen und Tapetenthüren erspähe, wie soll da nicht der Einzelne seinen Biberbau, sein Maulwurfs¬ loch sorgsam verstopfen? Die öffentliche Meinung macht selbst für ihn Polizei und verurtheilt denjenigen, der das ,,geweihte" Leben der Familie der Oeffentlichkeit preis gibt. Im Civilisationsleben der europäischen Welt ist das Nackte verpönt, und so groß ist die Furcht vor der Enthüllung der eige¬ nen Verkrüppelung, daß man es als Verletzung des gesellschaftlichen Ge¬ setzes betrachtet, wenn man die Unsittlichkeit des Nachbarhauses der Welt blos stellt, wie sehr auch die Gesellschaft durch solche Enthüllung gewönne. Das „sittliche" Deutschland, zumal die von unten bis hinauf zugeknöpft und vermummt geht, wie die Altenburger Bäuerinnen—schreit Ach und Weh, wenn Jemand einen Fetzen von ihrer Heimlichkeit abreißt und Ihr werdet hören, wie sie jammern werden, wenn der erste mündliche Proceß in Preußen mit seiner halben, viertel, sechzehnte! Oeffentlichkeit hier und da ein häßliches Geheimniß der Welt enthüllen wird. Das kann ja mor¬ gen auch mir passiren, wird sich Mancher mit stillem Entsetzen denken und wir müssen gefaßt sein, daß, wenn erst die Sechzehntel-Oeffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen eingeführt sein wird — das reactionaire Geschrei ,der bösen Gewissen lauter als je gegen die volle Oeffentlichkeit sich erhe¬ ben wird. «erlag von Fr. Lud w. Hevbig. — Redacteur I. Kurant.,. Druck von Fri edr i es An dra.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/366>, abgerufen am 04.07.2024.